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Polarrot

Polarrot

Titel: Polarrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Tschan
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bei jeder Sonntagspredigt darauf hin, dass ein kleiner Teil der Kollekte für die Pensionskosten des Jakobli Breiter abgezweigt würden, da der hartherzige Vater seinen einzigen Sohn verstoßen habe, nur weil der seine gottgegebenen Gaben nutzen und etwas aus sich machen wollte.
    Was wiederum Alois Breiters Wut und Schnapskonsum Sonntag für Sonntag steigerte, bis sich auch der letzte Bauer von ihm abwandte, seine Frau bei Nacht und Nebel nach St. Gallen floh und der Alois Breiter in sturer Konsequenz Alphütte, Weiderechte, Vieh, Hof und Gerätschaften versoff, bis er tot, mit blutverpisster Hose und zwei leeren Schnapsflaschen im oberen Bannwald vom örtlichen Landjäger gefunden wurde.
    So stand Jack wieder als der Halbwaise Jakobli Breiter, von Gott und der Welt verlassen, mit den Nachwirkungen einer Flasche Champagner, einer gründlich gescheiterten Nacht, aber mit immerhin 150 Pfund Sterling im Hosensack am 23. Februar 1929, nachts um Viertel vor elf frierend vor dem Basler Bahnhof und bemerkte nicht, wie sich ein Clochard von hinten an ihn heranschlich und ihn lallend um einen Franken anging.
    Breiter erschrak, drehte sich um und sah in ein zerfurchtes, von einem wilden Bart umrandetes Gesicht.
    „Kein Geld“, stammelte Breiter.
    „Was willst du dann hier, mit Sack und Pack und ohne Geld, hä?“
    „Schlafen.“
    „Schlafen?“
    „Schlafen und weitersehen.“
    „Ohne Geld.“
    „Morgen habe ich welches. Und ich bring dir einen, wenn du mir sagst, wo man hier übernachten kann.“
    „Dort drüben hat’s Hotels, aber die nehmen unsereins nicht. Schon gar nicht, wenn du keinen Franken vorweisen kannst.“
    „Danke“, sagte Breiter müde, schulterte seinen Seesack und ging direkt ins gegenüberliegende Hotel Schweizerhof, beruhigte das Misstrauen des Portiers, indem er die 50-Pfund-Note auf die Theke legte, bezog sein Zimmer und fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

 
    Rund vier Jahre später, um genau zu sein, am Samstag, den 13. Mai 1933, so gegen sechs Uhr abends, saß Jakob Breiter, der sich mittlerweile Jacques nannte, weil das in Basel aufgrund der Nähe zu Frankreich einfach schicker klang, am Flussufer, rauchte eine Zigarette und schaute versonnen einem Kohledampfer zu, der die Schornsteine nach hinten geklappt hatte, damit er unter der niederen Rheinbrücke hindurchtuckern konnte, um in Birsfelden seine Ladung zu löschen und den Menschen ein wenig Wärme für den kommenden Winter zu bringen.
    Von den 150 Pfund Sterling, die rund 3.600 Franken, abzüglich der 80 Franken für die zwei Nächte im „Schweizerhof“, einbrachten, waren noch 1.875,20 Franken übrig, die auf einem Konto der „Zinstragenden Spar- und Leihkasse Basel“ lagen und etwas, wenn auch wenig, abwarfen. Bereits am Tag nach seiner Ankunft hatte er sich zwei modisch geschnittene dunkle Anzüge, drei weiße Hemden, einen exquisiten Homburger Hut und zwei Paar rahmengenähte Schuhe von Bally gekauft. Derart eingekleidet hatte er Bankhaus für Bankhaus abgeklappert, um sich als Bürofachkraft zu empfehlen – mit dem Resultat, dass er zwar ab diesem Tag ein Schweizer Bankkonto sein Eigen nennen konnte, aber weiterhin ohne Arbeit blieb.
    Da es das Schicksal nicht nur schlecht meinte, sondern seinen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit bewies, hatte er noch am gleichen Tag eine günstige Zweizimmerwohnung in Kleinbasel gefunden, die er während der folgenden Wochen mit Gebrauchtmöbeln und unterschiedlichem Geschirr aus der Arbeitshütte der Heilsarmee sparsam ausgestattet hatte. Seine rüstige und verwitwete Vermieterin nahm ihn ein wenig unter ihre Fittiche, ohne ihn allzu sehr zu bemuttern, bügelte seine drei Hemden, stopfte Löcher in den Socken, lehrte ihn kochen, wofür er sich mit Einkäufen, dem Putzen und Wienern des Stiegenhauses, das ihr nicht mehr so leicht von der Hand ging, und weiteren kleinen Behilflichkeiten revanchierte. Und manchmal, hauptsächlich an stickigen Sommertagen, wenn Wind und Regen über Tage hinweg ausblieben und die Hitze zu einer bleiernen Schwüle in dem Kessel, den der Rhein hier über Jahrtausende in die Landschaft gefressen hatte, hochkochte, lud ihn Frau Hunziker zu sich zum Abendessen auf ihre Terrasse ein. Meistens gab es Wurstsalat mit Gruyère, einer wunderbaren Sauce mit viel Mayonnaise und süßlichen, dicken Essiggurken. Dazu tranken sie ein kaltes Salmen-Bier und nach dem Essen einen trockenen Gewürztraminer aus dem Elsass, rauchten Zigaretten und unterhielten sich bis lange

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