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Polarrot

Polarrot

Titel: Polarrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Tschan
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Dort oben saß ich. Vier Jahre lang, Breiter. Den Karabiner 11 auf den Knien. Wissen Sie, wie schwer ein Karabiner ist, Breiter? Wissen Sie, wie schwer ein Karabiner 11 ist, Breiter?“
    Jack schwieg.
    „Wie sollten Sie auch. Vier Kilo. Wissen Sie, wie schwer vier Kilo auf den Knien während vier Jahren auf dem Berninapass werden? Zweitausendzweihundert und ein paar Meter über dem Meer, Breiter? Sie sagen nichts mehr, wie sollten Sie auch. Der 11er drückt Ihnen die Füße in den Berg, dorthin, wo der Frost auch bei sonnigen dreißig Grad nichts zu befürchten hat. Füße im Dauerfrost, Breiter, vier Jahre lang.“
    Camenisch ging zu seinem Pult, öffnete die oberste Schublade, entnahm ihr sein silbernes Zigarettenetui mit den eingravierten Initialen HC, ging wieder zum Fenster, stellte sich an der gleichen Stelle neben Jack hin, bot ihm eine an, Jack klaubte die Zigarette aus der Halterung, steckte sie sich in den Mund, Hans Camenisch gab ihm Feuer und füllte seine Lungen mit einem tiefen Zug einer „St. Moritz“.
    „Und wissen Sie wofür, Breiter? Für nichts. Vielleicht. Vielleicht für nichts. General Wille sagte, die Anderen wollen uns die Schweiz wegnehmen. Sie hätten sie uns nicht weggenommen. Sie waren gar nicht da. Ein paar versprengte Ersatzdienstler, vielleicht. Lug und Trug. In Wirklichkeit hätte Wille die Schweiz ganz gerne verschachert. Für sich. Da haben wir dagegen gehalten. Haben den 11er vier Jahre auf unseren Knien ertragen, damit sich die Unterländer nicht unseren Verdienst unter den Nagel reißen und ihn an die Preußen versilbern. Darum haben wir den 11er irgendwann während der vier Jahre gewendet, seine Mündung schaute eines Tages einfach nicht mehr gegen Italien, sondern genau gegen dieses Fenster, vor dem wir jetzt stehen. Damit sich keines dieser hohen Rösser zwischen dieses Fenster und den Berninapass wagte. Aber darüber hat niemand gesprochen, Breiter.“
    Jack zog an der Zigarette. Camenisch tat es ihm gleich, schaute besorgt auf die Kippen, öffnete das innere Fenster und holte den schweren Aschenbecher aus der Fensterecke. Gemeinsam ascherten sie.
    „Und jetzt kommen Sie, Breiter, aus dem Unterland, aus dem Toggenburg, immerhin ein halber Bergler. Und Sie reiten die schlimmste Offensive, die hinterhältigste Attacke, die sich ein gemeiner Soldat ausdenken kann. Wissen Sie eigentlich, was Sie getan haben, Breiter?“
    Hans Camenisch nahm, ohne Jacks Schweigen abzuwarten, den Aschenbecher von der Fensterbank, ging zum Schreibtisch, setzte sich hinter sein Pult, nahm noch einen Zug, drückte die Zigarette aus und befahl Jack, das zweite Fenster auch zu öffnen, die Zigarette zum Fenster hinauszuwerfen und sich in einen Sessel ihm gegenüber vor den Schreibtisch zu setzen.
    Jack tat, wie ihm befohlen, und schwieg.
    „Breiter, ich mag Sie, eigentlich, aber Sie haben das Schlimmste, das Dümmste, das Geschäftsschädigendste getan, was man in einem Hotel dieser Klasse tun kann. Haben Sie eigentlich einen blassen Schimmer, was Sie getan haben?“
    Jack schlug ein Bein über das andere, rutschte auf dem Sessel hin und her und fasste sich: „Gut, ich habe eine Russin aus dem Silvretta erobern wollen, das stand mir als Arbeitersohn aus dem Toggenburg wohl nicht zu. Aber ich darf ja mein Glück auch …“
    „Breiterrr!!!! Sie haben einer Dame der besten russischen – wenn auch untergegangenen – Gesellschaft faustdicke Lügen aufgetischt, nur um an Geld zu kommen. Sie haben getäuscht, gelogen, betrogen – mit gezinkten Karten gespielt. Breiterrr!!!! Es gibt kein schlimmeres Vergehen hier oben. Mord wäre ein Pappenstiel dagegen.“
    Jack versank schweigend in sich hinein.
    Camenisch entnahm dem Etui eine weitere Zigarette, stand auf, trat ans offene Fenster, schaute auf den schwarzen Fleck im Weiß des gefrorenen Sees, zündete sie an und fragte leise, zum Fenster hinaus: „Und wissen Sie warum, Breiter?“
    Jack zog kurz die Knie an, bemerkte es und nahm wieder eine gerade Sitzhaltung ein.
    „Weil es die Vorratshaltung gefährdet. Die Vorratshaltung, Breiter.“ Camenisch drehte sich zu Jack um, fixierte ihn streng, als wolle er ihm zeigen, dass er ihn bei einer Unaufmerksamkeit erwischt hätte. „Was Sie hier oben sehen, Breiter, ist das große Sichgehenlassen, die unaufhörliche Feier der Davongekommenen: Die Männer ziehen ihre Jacketts aus und die Frauen werfen ihre Mäntel fort, die Kapelle spielt zum Tanz, der Champagner fließt in Strömen, die Zimmer werden

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