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Polarrot

Polarrot

Titel: Polarrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Tschan
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Griff.“
    „Ich habe eine, besser hatte eine Kasse und die ist seit zwei Stunden leer. Leerer geht’s nicht mehr. Wie soll ich da sechs Kässeli füllen?“
    „Eben, darum brauchst du sechs, sonst lernst du nie. Musst einteilen, dann machst auch nicht mehr so einen Mist. In einer Nacht ganzes Geld auf eine Russin setzen, porca miseria, wie dumm sind eigentlich Toggenburger?“
    „Toggenburger waren immer arm. Darum wissen sie wahrscheinlich nicht, wie man reich wird. Aber dumm sind sie nicht, Vittorio!“
    „Gut, Bub, dann beweis es. Machen wir Kässeli!“
    „Was?“
    „Wir machen dir jetzt Kässeli, damit du durchs Leben kommst, Toggenburgerli.“
    „Aber ich brauche die nicht!“
    „Morgen, Direttore jagt dich zum Tempel hinaus. Dann steigst du zu Gian auf den Bock und fährst zum Bahnhof und dann gehst du ins Tal. Wir sehen uns vielleicht nie mehr. Mit Kässeli, du denkst an alten Vittorio. Und vielleicht hilft auch deinem Charakter, Bub.“
    Jack schwenkte das Glas. „Gib mir noch ein bisschen Petrus, bitte.“
    „Petrus gegen Kässeli.“
    Jack überlegte einen Moment. „Gut, Kässeli gegen Petrus.“
    Vittorio ging in die Küche und kam nach einer Weile mit sechs großen Einmachgläsern mit Metallbügeln und Gummiringen zurück. Dann öffnete er eine Schublade und entnahm ihr sechs kleine Klebeetiketten mit Pflaumen-, Erdbeeren- und Aprikosenmotiven sowie einen edlen Waterman-Füllfederhalter.
    Er legte alles auf das Clubtischchen und ging in die Küche zurück, um den Château Petrus zu holen.
    Als er zurückkam, hob Jack die Füllfeder in die Höhe.
    „Woher?“
    Vittorio stellte die Flasche auf den Tisch, lehnte sich zurück und sagte augenzwinkernd: „Zimmer 147.“
    Direktor Hans Camenisch stand am Fenster, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und schaute in die perfekte Winterlandschaft hinaus. Der See weißgefroren, die Berge weiß, die Tannen dunkelgrünschwarz, der Himmel blau. So musste es sein. Das war die unbezahlbare Kulisse für seine Intendanz im mondänsten Hotel der Welt.
    Als es klopfte, wippte er kurz, zählte ganz leise bis zehn, rief „Herein!“
    Jack betrat das durch und durch aus erlesenem Holz getäfelte Büro und blieb knapp hinter den Sesseln vor dem schweren Eichenschreibtisch stehen.
    Nachdem er Mantel, Frack, Schuhe und die anderen Requisiten seines missglückten Eroberungsfeldzugs zeitig abgegeben und sich die lange Nacht mit kurzem Schlaf in Vittorios Ohrensessel, viel kaltem Wasser und einer gründlichen Rasur aus dem Antlitz vertrieben hatte, sah er aus wie immer: das mittellange Haar über den feingeschnittenen Gesichtszügen zum perfekten Mittelscheitel gekämmt, schwarzer, zu oft getragener und dadurch an den heiklen Stellen bereits leicht ausgebeulter Anzug, schwarze Krawatte mit dezenten weißen Querstreifen, schwarze Schuhe, Budapester, die auch schon bessere Tage gesehen hatten.
    Direktor Hans Camenisch schaute unverwandt aus dem Fenster. Jack betrachtete den riesigen Schreibtisch: alles fein säuberlich geordnet. Die teuren Füllfedern standen aufgereiht wie Zinnsoldaten in ihren Halterungen. Daneben befanden sich drei verschiedenfarbige, unterschiedlich angeschriebene Tintenfässchen; auf dem königsblauen stand „Korrespondenz“, auf dem roten „Personal und Lieferanten“ und auf dem schwarzen „Kondolenzen“. In der Mitte lag auf einer ledernen Schreibunterlage ein handgeschöpftes Briefpapier mit einer Prägung des Schriftzugs des Grand Palace, einem Wasserzeichen und einem Vordruck in großer, geschwungener Schreibschrift: „Zeugnis“.
    „Der arme Mann aus dem Toggenburg. Köbi Breiter. Kommen Sie, stellen Sie sich neben mich. Ich will Ihnen etwas zeigen.“ Dazu winkte Camenisch mit einer der hinter dem Rücken verschränkten Hände. Jack schritt langsam über den klassischen, mit vielen Ornamenten verzierten Perserteppich und stellte sich so geräuschlos wie möglich neben Hans Camenisch.
    „Was sehen Sie, Breiter, außer einer schneegeräumten Schwarz-Eis-Stelle auf dem See, die von einer wendenden Kutsche herrührt?“
    „Tannen, Berge – Schnee.“
    „Und dahinter?“
    „Mehr Berge.“
    „Welcher?“
    „Piz Bernina?“
    „Richtig, Breiter! Und vis-à-vis von dem Bernina?“
    „Links, vorne oder rechts?“
    „Links, Breiter, links.“
    „Der Pass?“
    „Jawohl, Köbi Breiter. Der Berninapass.“
    Jack schwieg. Schweigen empfand er zum ersten Mal in seinem Leben als eine passende Antwort.
    „Der Berninapass, Breiter.

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