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Polarrot

Polarrot

Titel: Polarrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Tschan
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er mit vor Schmerz überlauter Stimme: „Herr Direktor, bitte, ja, das war ein Riesenmist, entschuldigen Sie, bitte entschuldigen Sie das Palace, Herr Direktor Camenisch …“
    Camenisch bedeutet ihm, still zu sein, nahm eine Feder, zog sie mit blauer Tinte auf und begann in gebührendem Abstand zum vorgedruckten „Zeugnis“ mit geschwungener Handschrift: „Jakob Breiter, geboren am 9. Februar 1909 in Wildhaus, Toggenburg, Kanton St. Gallen, arbeitete vom 1. Februar 1928 bis zum 28. Februar 1929 im Grand Palace St. Moritz im Kontor. Die ihm aufgetragenen Arbeiten erledigte er zur … Zufriedenheit.“
    „Bester Zufriedenheit, bitte Herr Direktor.“
    „Also, Toggenburgerli, das ist das Letzte, was ich für dich tue“, schrieb „bester Zufriedenheit“ und setzte mit einer eleganten Ausholbewegung seine Unterschrift unter das Schriftstück. Dann trocknete er mit der Löschwiege das Geschriebene, hielt es vor sich hin, las es nochmals auf Fehler hin durch, fand keinen, legte das Blatt wieder vor sich hin, schaute Jack tief in die Augen und sagte schließlich: „Ich habe den 28. Februar 1929 als Kündigungsdatum eingetragen, so waren Sie wenigstens ein Jahr bei uns.“
    „Danke, Herr Direktor.“
    Camenisch faltete das Papier, steckte es in einen gefütterten Umschlag und gab ihn Jack mit den Worten: „Breiter, Sie sind ein Hornochse. Ich habe Sie gemocht, die Gäste haben Sie gemocht, Sie hätten es weit bringen können und dann bauen Sie solch einen Mist.“
    Er stand auf, ging zu einem Kassettenschrank, zog eine Kassette heraus, entnahm ihr 50 Franken, drehte sich zu Breiter um, hieß ihn aufstehen und zu sich kommen, streckte ihm die Note hin und sagte: „Hier, schauen Sie zu, dass Sie ins Unterland kommen.“
    Jack nahm die Note, bedankte sich und wollte Camenisch die Hand geben, doch der wandte sich ab und ging zu seinem Schreibtisch.
    Jack wartete einen Moment lang unschlüssig, stieß einen tiefen Seufzer aus und ging zur Tür.
    „Übrigens, Breiter“, hörte er Camenisch hinter sich, „Penhaligon’s Blenheim ist ein Sommerduft. Im Winter nimmt man English Fern, wenn schon.“
    Jack ging, schloss die Türe sachte hinter sich und atmete tief durch: Er hatte weder Teer auf seiner Haut, noch hatte ihm Camenisch ein Federkleid verpasst. Er wurde einfach entlassen. Auf Wiedersehen, bye, bye, adieu. Mit einem guten Zeugnis, wie es sich für ein Hotel dieser Klasse gehört. Ein schlechtes würde ja nur auf das Haus selbst zurückfallen.
    Und dann waren da noch 150 Pfund Sterling und ganz neu 50 Schweizer Franken in seinem Hosensack. Damit konnte er ein halbes Jahr leben. Gut leben, ohne großen Verzicht, sich Chancen eröffnend, die, wäre er klamm, sich gar nicht bieten könnten.
    Er trat vor den wuchtigen, goldgerahmten Spiegel auf der anderen Seite des Ganges und prüfte seinen Scheitel. Er senkte seinen Kopf, schlug seine Hände auf den Schädel, zerzauste seinen perfekten Mittelscheitel, fuhr wild in seinen Haaren herum, so lange, bis kein einziges Haar mehr an seiner ursprünglichen Stelle stand. Langsam hob er sein Haupt und betrachtete sein Werk: ein wirrer Wuschelkopf, Strähnen, die in die Stirn fielen, Strähnen, die gerade in die Luft ragten und Strähnen, die einfach herunterhingen, als hätten sie noch nie einen Kamm gesehen. Er wusste nicht, ob ihm gefiel, was er sah. Wollte er sich so dem Spießrutenlauf durch die Gänge stellen? Werden sie denken, Camenisch hätte ihn windelweich geschlagen? Ihn seiner Würde beraubt? Ach was, sollen sie denken, was sie wollen. Sie werden wohl eh zum letzten Mal über mich denken.
    Jack bog sein Rückgrat durch, strich die Haare glatt, versuchte den Scheitel wieder herzurichten, streckte das Kinn in die Höhe und machte sich auf, den Weg bis zu seiner Kammer gebührenden Schrittes abzuschreiten.
    Zu seiner Verwunderung verfolgte niemand seinen Abgang. Keine Tür ging auf und gab seinen Blick auf ein weiß gestärktes Gouvernantenhäubchen und neugierige Augen frei, kein Koch schwenkte zum Abschied seine silberne Suppenkelle, und auch der Concierge schaute nur stur auf die vor ihm liegenden Papiere. So blieb auch Breiter stur und zog seine gerade Haltung mit dem hochgestreckten Kinn bis zu seiner Kammertüre durch, öffnete sie, trat ein, war froh, dass der stinkende Zimmernachbar nicht da war, setzte sich auf sein Bett und vergrub den Kopf in seinen Händen.
    Was sollte er jetzt tun? Nach Hause, wo die Mutter ihm eine mit magerem Speck durchsetzte

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