Polarsturm
schob, damit er Luft holen konnte. Er hatte fast das Gefühl, sie spende ihm mit ihren Blicken Wärme. Er atmete tief durch, gab den Regler zurück und merkte mit einem Mal, wie sich sein Wahrnehmungsvermögen trübte. Er versuchte, sich auf seine müder werdenden Beine zu konzentrierten, wollte sie noch kräftiger bewegen und erinnerte sich daran, dass sie sich zur Küste durchschlagen mussten.
Es war ein schneller Entschluss gewesen, der ihnen das Leben gerettet hatte. Als die sich ausbreitende Kohlendioxidwolke das ganze Boot umgeben hatte, mussten sie Zuflucht im Wasser suchen. Summer hatte kurz überlegt, ob sie die Ankertrosse kappen und durch den Dunst rasen sollte, aber wenn der Motor nicht sofort angesprungen wäre, waren sie dem Tod geweiht gewesen. Außerdem musste sie auch an Dirk denken. Wenn er unter dem Heck auftauchen sollte, während sie gerade losfuhren, könnte er von der Schraube zerfetzt werden. Womöglich hatte er ohnehin keine große Überlebenschance, aber vielleicht konnte er dem Gas mit dem verbliebenen Pressluftvorrat doch entrinnen.
»Wir müssen ins Wasser«, rief sie, als die Wolke näher kam. Trevor sah, wie sie zu einer einsatzbereiten Pressluftflasche lief, die an der Bordwand lehnte.
»Zieh deinen Trockentauchanzug an. Ich nehme die Flasche«, sagte er.
Knapp eine Minute, bevor das Boot in Dampfschwaden gehüllt war, war Summer in ihren Anzug geschlüpft und hatte sich eine Tauchbrille geschnappt, während Trevor in aller Eile den Tank umschnallte. Sie hatte kaum noch Zeit, ihr Stabilizing-Jacket anzulegen, als das Kohlendioxid über das Deck waberte. Sie fielen eher über die Bordwand, als dass sie sprangen, landeten mit einem lauten Aufklatschen im kalten Wasser und tauchten unter der tödlichen Wolke weg.
Trevor, der nicht gegen die Kälte geschützt war, hatte beim Eintauchen das Gefühl, als träfe ihn ein Stromschlag, doch sein Körper schüttete so viel Adrenalin aus, dass er nicht erstarrte. Sie hielten einander fest, reichten sich abwechselnd den Atemregler und bewegten sich mit unbeholfenen Beinschlägen voran. Nach einiger Zeit aber fanden sie ihren Rhythmus und näherten sich allmählich der Insel.
Doch schon bald machte Trevor die Kälte zu schaffen. Zunächst nahm er die Auswirkungen kaum wahr, aber Summer merkte, dass seine Beine langsamer wurden und seine Lippen und Ohren sich blau verfärbten. Sie wusste, dass er Gefahr lief, sich zu unterkühlen. Sie trat mit den Beinen noch schneller aus, wollte nicht, dass sie ihren Schwung verloren, kämpfte sich noch weitere zwanzig, dreißig Meter voran und spürte dabei, wie er immer schwerer wurde. Sie blickte nach unten, hoffte, dass der Meeresboden anstieg, aber sie konnte lediglich ein paar Armlängen weit durch das trübe Wasser blicken. Sie hatte keine Ahnung, wie weit sie noch von der Insel entfernt waren, oder ob sie nicht sogar im Kreis geschwommen waren. Sie musste jetzt auftauchen, auch wenn es riskant war.
Also nahm sie einen tiefen Atemzug aus der Pressluftflasche, steckte Trevor den Regulator dann wieder in den Mund, stieß nach oben und zog ihn mit sich. Kaum war sie aufgetaucht, drehte sie sich nach allen Seiten um und versuchte, sich zu orientieren. Ihre Befürchtungen erwiesen sich als unbegründet. Sie waren den dichten Kohlendioxidwolken entkommen – zumindest vorübergehend –, die ein ganzes Stück entfernt zum Himmel aufstiegen. In der entgegengesetzten Richtung ragten knapp vierhundert Meter entfernt die grünen Hügel von Gil Island auf. Sie waren nicht direkt darauf zugeschwommen, hatten sich aber immerhin der Küste genähert.
Summer atmete ein paar Mal tief durch, ohne Schaden zu nehmen, griff dann unter Trevors Arm und blies das Stabilizing-Jacket auf. Die Weste blähte sich und hob Trevors Oberkörper aus dem Wasser. Sie schaute ihn an, worauf er ihr zuzwinkerte, aber sein Blick war stumpf und teilnahmslos. Sie griff hinten an das Jacket, schwamm mit kräftigen Beinschlägen in Richtung Küste und zog ihn hinter sich her, während er kaum noch die Füße bewegen konnte.
Die Insel schien nicht näher zu kommen, und allmählich wurde auch Summer müde, auf der zudem die Sorge um Trevor lastete. Sie versuchte, nicht zur Küste zu blicken und sich stattdessen ganz aufs Schwimmen zu konzentrieren, doch dabei spürte sie erst recht, wie schwer ihre Beine wurden. Verzweifelt versuchte sie, ihr Tempo zu halten, als ihr mit einem Mal Trevors Stabilizing-Jacket entglitt und er an ihr vorbeitrieb.
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