Polarsturm
stehen, und Finlay sah, dass der Insasse mit einer Angelrute herumhantierte. Sie zog das Ruder herum und kreuzte nach Backbord auf, um ihn ablandig zu passieren. Als sie mit ein paar Metern Abstand an ihm vorbeisegelte, hörte sie plötzlich ein lautes Klatschen, gefolgt von einem Hilferuf.
Finlay drehte sich um und sah, dass der Mann im Wasser lag und mit den Armen wild um sich schlug, ein Zeichen, dass er nicht schwimmen konnte. Außerdem wurde er offenbar von seiner schweren Jacke unter Wasser gezogen, dann kämpfte er sich mühsam wieder nach oben. Finlay riss die Ruderpinne herum und erwischte einen jähen Windstoß, der das Großsegel blähte und das Boot zu dem in Seenot geratenen Mann hintrieb. Als sie näher kam, holte sie rasch die Segel ein, ließ sich ein Stück treiben und steuerte das Boot neben den um sich schlagenden Mann.
Finlay sah, dass er ziemlich stämmig war, kurze Haare und ein wettergegerbtes Gesicht hatte. Trotz seiner offenkundigen Panik schaute er seine Retterin mit einem durchdringenden Blick an, der ganz und gar nicht ängstlich wirkte. Er wandte den Kopf und schaute unwirsch zu dem schwarzen Labrador, der an der Reling des Segelbootes stand und ununterbrochen bellte.
Finlay wusste, dass sie nicht mit einem Ertrinkenden kämpfen sollte, deshalb suchte sie das Deck nach einem Bootshaken ab. Als sie aber keinen sah, rollte sie rasch die Vertäuleine am Heck des Segelbootes auf und warf sie dem Mann mit viel Geschick zu. Er konnte sich das Seil gerade noch um den Arm schlingen, bevor er aber wieder im Wasser versank. Finlay stemmte ein Bein ans Dollbord und zog mit aller Kraft an der Leine. Kurz hinter dem Heck tauchte der Mann keuchend und nach Luft schnappend wieder auf.
»Ganz ruhig«, rief Finlay ihm zu. »Wir holen Sie schon raus.« Sie zog ihn näher, dann schlang sie die Leine um eine Klampe.
Der Mann beruhigte sich und zog sich schwer atmend zum Heck.
»Können Sie mir an Bord helfen?«, krächzte er und streckte den Arm hoch.
Ohne lange zu überlegen, beugte sich Finlay vornüber und ergriff die kräftige Hand des Mannes. Bevor sie sich abstemmen und ziehen konnte, wurde sie mit einem jähen Ruck nach vorn gerissen. Der Mann hatte sie am Handgelenk gepackt, sich zurückgeworfen und gleichzeitig mit den Füßen am Heck abgestoßen. Die etwas ältere Frau verlor das Gleichgewicht, flog über die Reling und landete ebenfalls im Wasser.
Im ersten Augenblick war Elizabeth Finlay noch verwundert, aber das eisige Wasser brachte sie rasch zur Besinnung. Sie keuchte auf, dann orientierte sie sich schnell und stieß nach oben. Doch sie kam nicht von der Stelle.
Der Ertrinkende hatte ihr Handgelenk losgelassen, packte sie jetzt aber am Oberarm. Zu Finlays Entsetzen wurde sie immer tiefer unter Wasser gezogen. Nur ihr Sicherheitsgurt, der bis zum Anschlag gespannt war, bewahrte sie davor, in der Tiefe zu versinken. Während sie um ihr Leben kämpfte, blickte sie durch einen Schleier aus aufsteigenden Luftblasen auf ihren Angreifer. Zu ihrem Entsetzen sah sie, dass das Mundstück eines Atemreglers, aus dem ein steter Blasenstrom drang, zwischen seinen Lippen klemmte. Sie riss sich los, wollte ihn wegstoßen und spürte etwas Schwammiges unter seiner Kleidung.
Ein Trockentauchanzug. Nun begriff sie die grauenhafte Wahrheit. Dieser Mann wollte sie umbringen.
Angst und Panik erfassten sie, dann kam der Adrenalinstoß, und die zähe kleine Frau trat und schlug um ihr Leben. Ihr Ellbogen traf das Gesicht des Mannes und riss ihm den Atemregler aus dem Mund. Er ließ sie einen Moment lang los, woraufhin sie verzweifelt nach oben stieß. Doch kurz bevor sie auftauchte, streckte er die andere Hand aus und bekam ihren Knöchel zu fassen. Damit war ihr Schicksal besiegelt.
Obwohl sie das Gefühl hatte, ihr zerspringe die Lunge, kämpfte Finlay noch eine Minute lang voller Verzweiflung, dann wurde ihr allmählich schwarz vor Augen. Trotz allen Entsetzens machte sie sich Sorgen um ihren Labrador, dessen gedämpftes Bellen auch unter Wasser noch zu hören war. Dann erschlaffte sie allmählich, als ihr Gehirn nicht mehr mit Sauerstoff versorgt wurde, konnte den Atem nicht länger anhalten und schnappte unwillkürlich nach Luft, sodass ihr das kalte Wasser in die Lunge drang. Mit einem krampfhaften Würgen und einem letzten wilden Schlagen der Arme hauchte sie ihr Leben aus.
Ihr Angreifer hielt den schlaffen Leichnam noch zwei Minuten unter Wasser fest, dann tauchte er vorsichtig neben dem
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