Polarsturm
musterte.
»Der Motor unseres Bootes ist ausgegangen. Wir wollten bloß Hilfe holen«, flehte Summer. »Mein Bruder …«
Sie blickte über das Geländer der Gangway und erschauderte. Das Wasser da unten war wieder spiegelglatt, und Dirk war nirgendwo zu sehen.
Der Wachmann bedeutete Summer mit der Pistole, sie solle die Gangway hinablaufen. Er folgte ihr, drehte sich dann um.
»Fisch den Mann aus dem Wasser, wenn du ihn findest«, knurrte er Johnson an. »Wenn er noch am Leben ist, bringst du ihn zur Wachstation.« Er warf dem anderen einen scharfen Blick zu, dann fügte er hinzu: »Und wenn dir deine eigene Haut lieb ist, solltest du lieber beten, dass er noch lebt.«
Der Ochse schnaubte auf und trabte widerwillig hinter ihnen die Gangway herab. Als sie den Kai entlangliefen, versuchte Summer vergeblich, Dirk im Wasser zu entdecken. Und der Wachmann ging nicht auf ihre Bitten ein, weiter nach ihm Ausschau zu halten. Als sie unter den Lampen hindurchgingen, sah sie seinen kalten Blick, der ihr zu denken gab. Er mochte vielleicht nicht so ein Sadist wie der Posten auf dem Schiff sein, aber sie traute auch ihm durchaus zu, dass er auf eine unbotmäßige Gefangene schoss. Mit einem Mal verlor Summer jeden Mut, sie trabte mit gesenktem Kopf weiter, kam sich völlig hilflos vor. Dabei vermutete sie, dass Dirk das Bewusstsein verloren hatte, als er auf dem Wasser aufgeschlagen war. Mehrere Minuten waren inzwischen vergangen, und allmählich wurde ihr die bittere Realität bewusst. Er war fort, und sie konnte nicht das Geringste dagegen tun.
Johnson blieb am Fuß der Gangway stehen und blickte aufs Wasser. Dirk war nirgendwo zu sehen. Der stämmige Mann musterte die Kaiwand, bemerkte aber keinerlei Spuren, die darauf hindeuteten, dass er sich an Land gezogen hatte. Und am Schiff entlang hätte er nicht schwimmen können, ohne entdeckt zu werden. Irgendwo da unten, das wusste er, lag dieser Mann, und mittlerweile war er tot. Der Posten starrte ein letztes Mal von der Gangway aufs Wasser, dann trottete er wieder aufs Schiff und verfluchte den Wachmann.
In drei Metern Tiefe trieb Dirk besinnungslos dahin, war aber alles andere als tot. Nach dem Sturz war er zwar kurz wieder zu Bewusstsein gekommen, in der Dunkelheit aber heillos verloren gewesen. Einen Moment lang konnte er den schwarzen Schleier, der ihn umfing, zerreißen und sogar vage etwas wahrnehmen, spürte, dass er sich mühelos durchs Wasser bewegte. Dann wurde ihm irgendetwas zwischen die Lippen geklemmt, und im nächsten Moment hatte er das Gefühl, als stoße ihm jemand einen Gartenschlauch in den Mund. Kurz darauf senkte sich der Vorhang wieder, und er trieb in die ruhige Dunkelheit davon.
Ein Hämmern an seiner Schläfe holte ihn ein zweites Mal zurück. Er spürte einen Schlag am Rücken und an den Beinen, dann kam es ihm so vor, als würde er in einen Schrank gestopft. Er hörte, wie jemand seinen Namen sagte, aber die übrigen Worte blieben unverständlich. Die Stimme verstummte, dann entfernten sich Schritte. Mit aller Macht versuchte er, ein Auge zu öffnen, aber sie waren wie zugeklebt. Seine Kopfschmerzen kehrten zurück und wurden immer heftiger, bis sie vor seinen geschlossenen Augen zu Sternenbildern zerbarsten. Und dann wurden die Lichter, die Geräusche und der Schmerz einmal mehr von einer wohltuenden Dunkelheit getilgt.
21
Summer wurde vom Kai aus an dem langen Gebäude vorbeigeführt, in dem sich die Pumpstation befand. Die unerwartete Brutalität, mit der man ihren Bruder niedergeschlagen hatte, hatte ihr zunächst einen Schock versetzt, aber jetzt war sie wieder bereit, die bangen Gefühle zu unterdrücken und logisch zu denken. Was konnte in dieser Fabrik so wichtig sein, dass es ein solches Verhalten rechtfertigte? Wurde hier tatsächlich Kohlendioxid in den Tanker gepumpt? Sie warf einen kurzen Blick zu dem Wachmann, der ein paar Schritte hinter ihr war und die Pistole gezogen hatte. Selbst die gedungenen Wachschutzmänner taten so, als handle es sich um eine streng geheime Einrichtung.
Das Surren der Pumpen wurde leiser, als sie an dem Hauptgebäude vorbei waren und über offenes Gelände gingen. Kurz vor dem Verwaltungsgebäude und der angrenzenden Wachstation hörte Summer auf der linken Seite ein Rascheln im Gebüsch. Sie dachte an den ausgestopften Grizzlybären in dem Café und wich rasch ein paar Schritte nach rechts aus, weg von dem Geräusch. Der verwunderte Wachmann fuhr herum und wollte Summer wieder mit der Waffe in
Weitere Kostenlose Bücher