Polarsturm
ihnen ragte ein stabiler Pier, an dem ein Boot lag, in den Kanal. Es war das dunkle Schnellboot, das sie am späten Nachmittag weggejagt hatte.
Summer schwamm neben ihn und griff in ihren Taucherbeutel. Sie ließ sich treiben, öffnete ein leeres Reagenzglas und entnahm eine Wasserprobe.
»Ich habe unterwegs auch schon zwei entnommen«, flüsterte sie. »Wenn wir rund um den Kai noch ein, zwei weitere kriegen, sollten wir genügend haben.«
»Nächster Halt«, erwiderte er. »Lass uns ab hier unter Wasser vorrücken.«
Dirk orientierte sich anhand des Kompasses an seinem Handgelenk, klemmte sich das Mundstück seines Atemreglers zwischen die Zähne und ließ einen Schwall Luft aus seinem Stabilizing-Jacket ab. Während er tiefer sank, schwamm er mit behutsamen Flossenschlägen auf die mächtige, überdachte Kaianlage zu. Der Wellblechbau war relativ schmal, nur ein paar Meter breiter als das Schiff, das dort vertäut lag, aber länger als ein Fußballplatz, sodass dort ein neunzig Meter langer Tanker mühelos anlegen konnte.
Das erleuchtete Zifferblatt des Kompasses war in dem pechschwarzen Wasser kaum zu sehen, als Dirk dem im Voraus angepeilten Kurs folgte. Als sie sich der Einfahrt zum Kai näherten, wurde das Wasser durch den Schein der Lichter an Land zusehends heller. Er schwamm weiter, bis die dunklen Umrisse des Tankerrumpfs vor ihm aufragten, dann stieg er langsam auf und tauchte fast unmittelbar unter dem Heck des Schiffes auf. Rasch suchte er den Kai ab, stellte aber fest, dass er um diese Zeit menschenleer war. Er zog die Kopfhaube vom einen Ohr weg und horchte auf Stimmen, doch das Dröhnen aus dem Pumpenhaus übertönte jedes Geräusch. Mit ein paar vorsichtigen Flossenschlägen entfernte er sich wieder von der Bordwand und sah sich das Schiff genauer an.
Aus Dirks Sicht war es zwar ein großes Schiff, aber für einen Flüssiggastanker trotzdem ziemlich klein. Es hatte stromlinienförmige Aufbauten und konnte in zwei waagerechten Tanks unter Deck zweieinhalbtausend Kubikmeter Flüssiggas befördern. Eigens für Transporte in Küstennähe konstruiert, wirkte es im Vergleich mit den hochseetauglichen Tankern, die fünfzig Mal so viel Flüssiggas befördern konnten, winzig.
Das Schiff war etwa zehn bis zwölf Jahre alt, schätzte Dirk anhand des Zustands der Schweißnähte, aber gut in Schuss. Er wusste nicht, welche Umbauten vorgenommen worden waren, damit es flüssiges Kohlendioxid befördern konnte, aber allzu aufwändig dürften sie nicht gewesen sein. CO2 hatte zwar eine etwas höhere Dichte als Erdgas, dafür waren aber nicht so extreme Temperatur- und Druckverhältnisse nötig, damit es flüssig blieb. Er blickte zu dem Namen auf,
Chichuyaa
, der in goldenen Lettern am Heckspiegel prangte, und erkannte anhand der darunter aufgemalten weißen Buchstaben, dass sein Heimathafen Panama City war.
Ein paar Meter entfernt stiegen Luftblasen empor, dann tauchte Summers Kopf auf. Sie warf einen Blick zum Schiff und zur Kaianlage, nickte dann ihrem Bruder zu, holte ein Reagenzglas heraus und entnahm eine Wasserprobe. Als sie fertig war, deutete Dirk zum Bug und tauchte unter. Summer tat es ihm gleich und folgte ihrem Bruder, als er nach vorne schwamm. Sie hielten sich an den dunklen Umriss des Rumpfes, arbeiteten sich mit leichten Flossenschlägen weiter nach vorne und tauchten lautlos am Bug auf. Dirk musterte die Freibordmarke des Tankers, die etwas weiter oben auf den Rumpf gemalt war, und stellte fest, dass das Schiff nahezu voll beladen war.
Summer betrachtete eine Reihe von Rohren, die sich wie dicke Tentakel von einer Pumpstation am Kai zum Schiff erstreckten. Diese sogenannten »Chicksan-Arme« schwankten und bebten unter dem hindurchströmenden flüssigen Kohlendioxid. Feine weiße Rauchfäden drangen aus dem Dach des Pumpengebäudes – Kondensationsdämpfe des gekühlten und unter Druck stehenden Gases. Summer griff in ihren Taucherbeutel, holte das letzte leere Reagenzglas heraus und fragte sich, ob das Wasser in der Umgebung mit Schadstoffen verseucht war, während sie die Probe entnahm. Sobald sie das Glas verstaut und den Beutel wieder zugezogen hatte, schwamm sie zu ihrem Bruder, der sich neben den Kai hatte treiben lassen.
Als sie näher kam, deutete Dirk zur Einfahrt der Kaianlage und flüsterte: »Nichts wie weg.«
Summer nickte und wollte schon kehrtmachen, dann zögerte sie aber plötzlich. Sie hatte den Blick auf die Chicksan-Arme über Dirks Kopf gerichtet. Sie warf ihm einen
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