Polarsturm
ein breitschultriger Mann in einem braunen Anzug die Treppe herunterkam und in eine nagelneue weiße Limousine stieg. Pitt bemerkte, dass ihn der Mann durch seine dunkle Sonnenbrille anstarrte, als er aus seinem Mietwagen stieg und das Gebäude betrat.
Der staubige Innenraum erinnerte ihn an ein Bergbaumuseum. Rostige Erzloren und Pickel standen in den Ecken und Winkeln herum, die hohen Regale entlang der Wände quollen vor Fachzeitschriften und alten Fotos über. Hinter einem breiten hölzernen Schalter stand ein wuchtiger alter Banksafe, der, wie Pitt vermutete, die wertvollen Mineralien enthielt.
Hinter dem Schalter saß ein älterer Mann, der ebenso eingestaubt wirkte wie die ganze Halle. Er hatte einen rundlichen Kopf, und die grauen Haare, die Augen und der Schnurrbart passten zu dem verblichenen Flanellhemd, das er unter zwei gestreiften Hosenträgern trug. Er blickte Pitt durch seine Gleitsichtbrille an, die hoch auf seiner Nase saß.
»Guten Morgen«, sagte Pitt und stellte sich vor. Er sah ein auf Hochglanz poliertes Blechgefäß, das einer großen Schnapsflasche ähnelte, und meinte: »Einen schönen alten Ölkanister haben Sie hier.«
Die Augen des alten Mannes leuchteten auf, als ihm klar wurde, dass Pitt nicht nur ein Tourist war, der sich nach dem Weg erkundigen wollte.
»Jo, habe früher die Öllampen der Bergarbeiter damit aufgefüllt. Kamen aus den Bruce-Minen, ganz in der Nähe. Mein Großvater hat in der Kupfermine gearbeitet, bis sie 1921 dichtgemacht hat«, sagte er mit pfeifender Stimme.
»Gibt’s viel Kupfer hier in den Bergen?«, fragte Pitt.
»Nicht mehr genug. Die meisten Kupfer- und Goldminen wurden vor Jahrzehnten geschlossen. Haben seinerzeit eine Menge Schürfer angelockt, aber reich geworden sind nicht allzu viele«, erwiderte er kopfschüttelnd. Dann sah er Pitt in die Augen und fragte: »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich möchte wissen, ob Sie Ruthenium auf Lager haben.«
»Ruthenium?«, fragte er und warf Pitt einen sonderbaren Blick zu. »Gehören Sie zu dem breitschultrigen Kerl, der grade hier war?«
»Nein«, erwiderte Pitt. Er musste an das seltsame Verhalten des Mannes in dem braunen Anzug denken, der ihm irgendwie bekannt vorgekommen war.
»Das ist ja merkwürdig«, sagte der Mann und musterte Pitt argwöhnisch. »Der andere Kerl war vom Ministerium für Natur- und Bodenschätze in Ottawa. Er wollte wissen, wie viel und woher wir unser Ruthenium haben. Komisch, das war das einzige Mineral, das ihn interessiert hat, und jetzt kommen Sie rein und erkundigen sich nach dem gleichen Zeug.«
»Hat er Ihnen seinen Namen genannt?«
»John Booth, hat er, glaube ich, gesagt. Ein komischer Kauz, hab ich mir gedacht. Nun, und worum geht’s Ihnen, Mr. Pitt.«
Pitt erklärte ganz allgemein, woran Lisa Lane forschte und welche Rolle Ruthenium bei ihrer Arbeit spielte. Er erwähnte nichts von der Bedeutung ihrer neuesten Entdeckung oder der Explosion im Labor.
»Ja, ich entsinne mich, dass ich dem Labor vor ein, zwei Wochen eine Probe geschickt habe. Ruthenium wird nicht allzu oft verlangt, allenfalls von ein paar Forschungslabors und auch ab und zu von einem Hightech-Unternehmen. Da die Preise verrückt spielen, können es sich nicht viele Leute leisten, damit zu arbeiten. Natürlich hat uns dieser Preisanstieg einen hübschen Gewinn eingebracht, wenn wir eine Bestellung kriegen.« Er lächelte und zwinkerte Pitt zu. »Ich wünschte bloß, wir hätten eine Quelle, um unseren Vorrat aufzustocken.«
»Sie haben keinen Lieferanten?«
»Ach herrje, nein, seit Jahren nicht mehr. Ich nehme an, mein Vorrat wird bald alle sein. Wir haben es immer von einer Platinmine im Osten von Ontario bekommen, aber das Erz, das sie jetzt dort rausholen, enthält nicht mehr genug. Nein, wie ich schon Mr. Booth gesagt habe, der Großteil unseres Ruthenium stammt von den Inuit.«
»Haben die es oben im Norden abgebaut?«, fragte Pitt.
»Offenbar. Ich habe für Mr. Booth die Einkaufsunterlagen rausgeholt«, sagte er und deutete auf ein in Leder gebundenes Geschäftsbuch, das am anderen Ende des Schalters lag. »Das Zeug wurde vor über hundert Jahren angeschafft. Im Hauptbuch wird Genaueres darüber berichtet. Die Inuit haben es ›Schwarzes Kobluna‹ oder so ähnlich genannt. Wir haben es immer als Adelaide-Probe bezeichnet, da die Inuit aus einem Lager auf der arktischen Halbinsel Adelaide kamen.«
»Das ist also alles, was in Kanada an Ruthenium vorrätig ist?«
»Soweit ich weiß. Aber
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