Polarsturm
niemand weiß, ob es dort, wo die Inuit es herhaben, noch mehr davon gibt. Es ist so lange her. Angeblich hatten die Inuit wegen irgendeines Fluchs Angst, auf die Insel zurückzukehren, von der sie es hatten. Es soll irgendwas mit bösen Geistern zu tun gehabt haben, dass man am Herkunftsort von Tod und Wahnsinn heimgesucht wird oder ähnlicher Quatsch. Eine dieser großen Geschichten aus dem Norden, nehme ich an.«
»Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Legenden häufig einen Kern Wahrheit enthalten«, erwiderte Pitt. »Haben Sie was dagegen, wenn ich mal einen Blick in das Buch werfe?«
»Ganz und gar nicht.« Der alte Geologe trottete zum anderen Ende des Schalters, kehrte mit dem Buch zurück und blätterte es im Laufen durch. Plötzlich runzelte er die Stirn und lief rot an.
»Santa Maria«, zischte er. »Er hat den Bericht rausgerissen, vor meinen Augen. Da drin war eine von Hand gezeichnete Karte von der Mine. Jetzt ist sie weg.«
Der Alte knallte das Buch auf den Schalter und warf einen wütenden Blick zur Tür. Pitt sah, wo die beiden Seiten feinsäuberlich aus dem Buch gerissen worden waren.
»Ich wage zu behaupten, dass Mr. Booth nicht der ist, der er vorgegeben hat zu sein«, sagte Pitt.
»Ich hätte Verdacht schöpfen müssen, als er nicht gewusst hat, was ’ne Waschrinne ist«, grummelte der Mann. »Ich weiß nicht, warum er unsere Unterlagen ruinieren musste. Er hätte doch um eine Kopie bitten können.«
Pitt kannte den Grund. Mr. Booth wollte nicht, dass irgendjemand erfuhr, woher die Inuit das Ruthenium hatten. Er drehte das Hauptbuch herum und las die noch teilweise vorhandene Eintragung vor den fehlenden Seiten.
22.Oktober 1917
Horace Tucker von der Churchill Trading Company schickte folgende nicht verhüttete Erzmengen:
5 Tonnen Kupfererz
12 Tonnen Bleierz
2 Tonnen Zink
¼ Tonne Ruthenium (Adelaide, »Schwarzes Kobluna«)
Herkunft und Prüfergebnis werdend nachfolgend aufgeführt.
»War das die einzige Fracht, die Sie von den Inuit erhalten haben?«, fragte Pitt.
Der Alte nickte. »Das war sie. Die fehlenden Seiten deuten darauf hin, dass das Mineral schon Jahrzehnte vorher eingegangen ist. Der Handelsposten in Churchill konnte keinen Markt für das Zeug finden, bis Tucker eine Probelieferung zusammen mit ein paar Mineralien aus einer Mine in Manitoba gekauft hat.«
»Besteht die Möglichkeit, dass die Unterlagen der Churchill Trading Company noch existieren?«
»Das bezweifle ich. Die haben um das Jahr 1960 den Betrieb eingestellt. Ich bin Tucker vor ein paar Jahren in Winnipeg begegnet, kurz vor seinem Tod. Soweit ich mich erinnern kann, hat er mir erzählt, dass der alte, aus Holz gebaute Handelsposten in Churchill niedergebrannt ist. Ich könnte mir vorstellen, dass auch die Unterlagen bei dem Brand vernichtet wurden.«
»Dann ist hier Endstation, nehme ich an. Tut mir leid, dass man Ihnen Ihre Unterlagen gestohlen hat, aber ich danke Ihnen, dass Sie mir alles mitgeteilt haben, was Sie wissen.«
»Einen Moment«, erwiderte der Mann. Er ging zu dem alten Safe und öffnete die Tür, kramte in einem Holzbehälter herum, der darin stand, drehte sich um und warf Pitt etwas zu. Es war ein kleiner, glatter, silbrig-weißer Stein.
»Schwarzes Kobluna?«, fragte er.
»Eine Probe auf Kosten des Hauses, damit Sie wissen, worüber wir geredet haben.«
Pitt beugte sich über den Schalter, schüttelte dem Geologen die Hand und bedankte sich.
»Noch eins«, sagte der Alte, als Pitt zur Tür ging. »Wenn Sie diesem Booth über den Weg laufen, dann sagen Sie ihm, dass ich mit dem Pickel auf ihn losgehe, wenn er mir noch mal unter die Augen kommt.«
Der Nachmittag war noch kühler geworden, denn mittlerweile kündigte eine dichte Wolkendecke eine aufziehende Schlechtwetterfront an, und Pitt wartete ungeduldig darauf, dass die Autoheizung endlich warm lief, als er vom Parkplatz der Genossenschaft losfuhr. Nachdem er in einem Café in Blind River rasch etwas gegessen hatte, fuhr er auf der kurvigen Bergstraße in Richtung Flugplatz und dachte über die Geschichte mit dem Ruthenium der Inuit nach. Das Erz musste aus der Arktis stammen, vermutlich aus der Nähe des Inuitlagers auf Adelaide. Wie hatten die Inuit mit ihren einfachen technischen Möglichkeiten das Ruthenium abgebaut? Gab es dort noch größere Vorkommen? Und wer war John Booth, und warum interessierte er sich für das Erz der Inuit?
Zu keiner dieser Fragen fiel ihm eine Antwort ein, während er seinen Mietwagen durch die
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