Polgara die Zauberin
Augenblick aus den Augen lassen. Kaum hatte ich ihr den Rücken zugedreht, war sie auch schon fort. Oft fand ich sie – nach stundenlanger Suche – ziellos durch den angrenzenden Wald streifen und klagend den Namen ihres Mannes rufen. Diese mitleiderregenden Schreie zerrissen mir das Herz, und ich brachte es nicht über mich, sie auszuschimpfen.
Rückblickend gebe ich zu, daß Chamdar kein gewöhnlicher Grolim war. Er war außerordentlich geschickt darin, sich zu verbergen. Ich habe nicht ein einziges Mal seine Anwesenheit gespürt oder einen Hinweis auf das entdeckt, was er mit Alaras Gedanken anstellte. Zudem kannte er mich viel besser, als ich bereit war einzuräumen. Er wußte beispielsweise, daß Alara nur wieder weglaufen mußte, und schon würde ich auf der Suche nach ihr alles stehen und liegen lassen. Die meisten Grolims hätten keinerlei Vorstellung von meiner Liebe zu den Mitgliedern meiner Familie gehabt, weil Liebe ihnen völlig fremd ist. Chamdar verstand meine Gefühle nicht nur, sondern benutzte sie auch, um mich im kritischen Augenblick auf äußerst geschickte Weise aus Annath fortzulocken.
Der Winter brach in jenem Jahr früh über uns herein. Die ersten starken Schneefälle zogen über die Berge, bevor die Espen ihr ganzes Laub hatten abwerfen können, und das machte den Waldboden schwer begehbar. Wenn schwerer, nasser Schnee sich auf noch am Ast hängende Blätter legt, brechen die Zweige und werden zu Hindernissen am Boden. Nachdem Alara mir ein paarmal davongelaufen war, erwog ich mehrmals den Gedanken, alle Vorsicht in den Wind zu schreiben und meine Suche nach ihr aus der Luft fortzusetzen. Ich verwarf den Gedanken jedoch entschlossen. Ich durfte nicht trockener Füße wegen Chamdar meinen Aufenthaltsort verraten.
Ich bin mir sicher, Euch ist die Ironie des soeben Gesagten nicht entgangen. Im wesentlichen versuchte ich mich vor jemand zu verstecken, der bereits genau wußte, wo ich mich aufhielt. Chamdar spielte Katz und Maus mit mir. Wenn ich daran denke, fängt mein Blut noch heute an zu kochen. Wenn ich wüßte, wie man das anstellt, würde ich ihn wieder zum Leben erwecken, damit Garion ihn noch einmal verbrennen kann.
Gegen Sonnenuntergang am Erastideabend bekam Ildera Vorwehen. Ich bin mir sicher, daß Chamdar auch das arrangiert hatte. Eine Frau aus dem Dorf überbrachte mir Gerans Bitte zu kommen. Ich schaute schnell in Alaras Zimmer. Sie schien fest zu schlafen, und ich griff behutsam in ihren schlummernden Geist und vertiefte ihren Schlaf. Dann packte ich mein Hebammenbesteck zusammen und eilte zum anderen Dorfende, um das jüngste Mitglied meiner Familie auf die Welt zu holen.
Ilderas Vorwehen hielten mehrere Stunden lang an, doch dann entkrampfte sie sich wieder, und die Schmerzen ließen nach.
»Was ist los, Tante Pol?« wollte Geran wissen. Seine Stimme klang ein wenig schrill.
»Es ist alles in Ordnung, Geran«, beruhigte ich ihn. »Das geschieht häufig. Ildera ist nur noch nicht so weit, das ist alles.«
»Du meinst, sie übt nur?«
So hatte ich es noch nie betrachtet. Ich fand seine Ausdrucksweise ungeheuer komisch.
Geran zeigte sich angesichts meines Gelächters jedoch ziemlich beleidigt.
»Ildera geht es gut, Geran«, versicherte ich ihm. »Hebammen nennen das, was wir gerade erlebt haben, Vorwehen. Sieh mal, es kommt so häufig vor, daß es sogar einen Fachbegriff dafür gibt. Morgen oder übermorgen ist es dann wirklich so weit. Sie wird jetzt schlafen, und das solltest du am besten auch tun. In der nächsten Zeit wird ohnehin nichts passieren.«
Dann klappte ich meine Tasche zu und stapfte durch den Schnee zurück zu meinem Haus.
Als ich zurückkam, war Alara nicht mehr da.
Spätestens dann hätte ich erkennen müssen, daß Chamdar meine Kontrolle über Alaras Geist gebrochen hatte. Niemand, dem ich zu schlafen befohlen habe, wacht auf, bevor ich es ihm sage.
Es war seit einer Woche ziemlich kalt, aber Neuschnee war nicht gefallen, so daß das Dorf und seine unmittelbare Umgebung mit kreuz und quer verlaufenden Fußspuren übersät waren, die in alle Richtungen führten. Ich konzentrierte meine Suche auf den Norden, die Richtung, die Alara auf ihren bisherigen kleinen Fluchten immer eingeschlagen hatte, und wieder war mir Chamdar einen Schritt voraus. Diesmal war sie nämlich nach Süden gelaufen. Trotz der Gefahr schickte ich flüchtige Suchgedanken aus, konnte sie aber dennoch nicht finden. Das erschien mir sehr merkwürdig. Ich fuhr fort, in großen Bögen den Wald
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