Polivka hat einen Traum (German Edition)
nicht!»
«Die Gerda hat gesagt, sie würde sich so freuen.»
Es war das erste Mal, dass Polivka in Sachen Gerda seine Contenance verlor. Er brüllte fünf Minuten und betrank sich dann fünf Stunden in der nächsten Gastwirtschaft.
Natürlich schmeichelte es seiner Mutter, bei der selbst ernannten Wiener Kunstelite Zaungast sein zu dürfen; trotzdem spürte sie den Makel des Verräterischen auf sich lasten. Ein Verzicht auf ihren neu gewonnenen gesellschaftlichen Status kam ebenso wenig in Frage wie ein schlechter Leumund, also dachte sie sich eine Lösung aus, wie sie vollkommener nicht sein konnte: Ihr Sohn und Gerda mussten sich auf ihr Betreiben hin versöhnen. Nicht nur, dass auf diese Art ihr Dauerabonnement in Gerdas Galerie gesichert wäre, nein, man würde sie als Heldin feiern, als Patronin einer wiederhergestellten Liebe.
Nach Polivkas Wutausbruch verstrichen ein paar Wochen, ehe sie das Thema wieder aufgriff. Seinem dadurch ausgelösten neuerlichen Tobsuchtsanfall folgten zwei Monate Pause bis zur nächsten Offensive. Mit der Zeit schien sich der Zweck der mütterlichen Übergriffe zu verändern: Offensichtlich ging es nicht mehr darum, Polivka zum Einlenken zu überreden, sondern ihn für seinen Starrsinn zu bestrafen. Seine Wunden lagen offen, man brauchte nur den Finger hineinzulegen.
Der (vorübergehende!) Aufenthalt in seinem alten Kinderzimmer währt nun bald fünf Jahre, und in diesem Zeitraum ist er gute fünfzig Nächte – außer sich vor Wut – beim nahegelegenen Wirten gesessen, um sich zu betrinken.
«Die Gerda», sagt die Mutter jetzt. «Weißt du, wir haben heute zufällig telefoniert. Sie würde sich so freuen, wenn du dich einmal bei ihr meldest.»
Es ist also wieder so weit. Und Polivka kann nichts dagegen tun: Schon schnalzt die Nadel seines Jähzorntachometers bis zum Anschlag. Sein erschöpftes, überreiztes Hirn setzt aus, auf seiner Netzhaut flackert nur noch ein einziges, erschreckend klares Bild: wie sich die Mütter, Galeriebesitzerinnen und Diätberaterinnen dieser Welt zu einer Heerschar geifernder Megären vereinen, um ihn zu vernichten.
«Leckts mich alle!», brüllt er los. «Verdammte Scheiße, leckts mich doch!» Sein Schädel glüht. Er ringt nach Worten. In den Ohren rauscht es wie ein Wasserfall, durch den von weit her ein leises, beleidigtes Stimmchen dringt.
«Wie dein Vater noch gelebt hat, hättest du mich nie so angeschrien. Ich weiß ja, dass ich nur eine Belastung für dich bin, wahrscheinlich wär es dir am liebsten, ich wär auch schon tot.»
Drei Schritte Richtung Eingang.
Türklinke.
«Wo willst du denn noch hin, jetzt, mitten in der Nacht?»
Die Luft ist warm.
Ein Motorrad gleitet vorbei.
«Ich weiß wirklich nicht, was ich schon wieder verbrochen hab …»
Zügig nach rechts.
«Ich hab doch nur gesagt …»
Zwei Häuserblocks geradeaus.
Dann über die Straße.
Links um die Ecke.
Wirtshaus.
5
Was Polivka in den folgenden Stunden zu sich nimmt, ist zwar nicht gekocht, wie Doktor Singh ihm heute früh geraten hat, aber nahrhaft und vor allem leicht verdaulich. Nach drei Krügeln Bier hat sich sein Puls so weit beruhigt, dass sich die ersten nüchternen Gedanken einstellen. Anfänglich darüber, ob man die Spezies der flüssigen Kohlenhydrate mit ein wenig gutem Willen zur Gattung der Rohkost zählen kann. Später dann über das Thema der Immobilienpreise. Wenn er (in einigermaßen erträglicher Nähe zum Präsidium) auch nur eine Siebzig-Quadratmeter-Wohnung bezöge, dann müsste er monatlich (Polivka rechnet) rund elfhundert Euro Miete zahlen, dazu noch rund zweihundert Euro für laufende Kosten wie Heizung und Strom. In Burenwürste umgerechnet, die am Würstelstand – mit Senf und Brot – schon für zwei Euro fünfzig zu haben sind, hieße das fünfhundertzwanzig zwar einfache, aber doch immerhin warme Mahlzeiten. Das, grübelt Polivka, muss auch der Grund sein, dass an Wiener Würstelständen in der Regel viel mehr Mieter als Vermieter anzutreffen sind: Mit den elfhundert Euro, die sie den Ersteren abgeluchst haben, würden sich Letztere schnurstracks den Magen verderben.
«Ein Krügel noch, bitte!»
Trotzdem ist es an der Zeit, sich etwas Eigenes zu suchen. Tadle nicht den Fluss, wenn du ins Wasser fällst , hat Doktor Singh einmal zu ihm gesagt. Die Frage ist, wie er den Fluss zwischen sich und die Mutter bringen, das andere Ufer erreichen und Land gewinnen kann, ohne bis auf die Knochen durchnässt zu werden. Die Frage ist,
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