Polivka hat einen Traum (German Edition)
dem Rückweg, ist im Grund ein armes Schwein. Man könnte meinen, dass Menschen wie er unter einem entsetzlichen Trauma leiden, einem schrecklichen Erlebnis, das ihnen jeglichen Ethos ausgetrieben und durch eine unstillbare Gier nach Geld und Macht ersetzt hat. Wie die Leute, die in ihrer Kindheit Hungerqualen erlitten haben und die seither tonnenweise Lebensmittel bunkern.
Vielleicht liegt es aber auch an der Erziehung, grübelt Polivka. Ein chronischer Mangel an Anerkennung, ein uneingelöstes Versprechen von Liebe, kurz: eine verstümmelte Seele, die man nun – gleichsam prothetisch – mit gesellschaftlichem Einfluss und privaten Reichtümern zu komplettieren versucht. Die Erde hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier: ein Spruch Mahatma Gandhis, den der gute Doktor Singh des Öfteren zu zitieren pflegt.
Auf seinem Platz erwartet Polivka bereits ein Glas Champagner. Tilman Stranzer sitzt daneben, den Kopf gesenkt und zum Fenster gewandt. Er brummelt leise vor sich hin, als sei er in ein Selbstgespräch vertieft.
«Was soll das heißen, hier an Bord?», raunt er, und: «Sie sind schuld daran, dass er mich überhaupt zu sich zitiert. Weil Sie mit diesen beiden Amateuren nicht fertigwerden.»
Jetzt erst sieht Polivka das Telefon in Stranzers Hand. «Von mir aus auch ein Kriminalbeamter, trotzdem sind es Amateure!», hört er Stranzer in den Hörer zischen. «Ihr empfangt sie hoffentlich in Wien? … Wie jetzt? Die Wiener Filiale ist nicht eingeweiht? … Wie sollen wir sie dann … Verdammt, John! Muss ich Ihnen wirklich Ihren Job erklären? Lassen Sie die beiden wenigstens verfolgen! Geben Sie halt vor, es geht um, was weiß ich, um einen Seitensprung! … Okay. Wann kommen Ihre Leute? … Abendflieger, gut … Natürlich können Sie mir gleich die Fotos schicken … Ja, per MMS. Ich werde aber trotzdem nicht durch die Maschine laufen, um die zwei zu finden; das ist Ihre Arbeit …»
Höchste Zeit zu handeln. Polivka macht auf dem Absatz kehrt und packt die Stewardess am Arm, die eben Richtung Cockpit zu entschwinden droht.
«Verzeihen Sie, aber … Können Handys nicht die Elektronik der Maschine stören?»
«Ja, mein Herr. Sie müssen ausgeschaltet sein.»
«Der Mann dort, schauen Sie …»
«So ein Starrsinn», wettert Stranzer, während er das (auf die wiederholte und zunehmend resolute Anweisung der Flugbegleiterin abgeschaltete) Smartphone auf die Ablage zwischen den Sitzen wirft. «Als ob diese grotesken Sicherheitsbestimmungen auch für die erste Klasse gälten.»
«Eine Frechheit», nickt Polivka mitfühlend. «Man hat es heutzutage wirklich schwer in unseren Kreisen. Aber lassen wir uns doch die gute Laune nicht verderben. Prost.» Er hebt sein Glas.
«Gesundheit», murmelt Stranzer und zeigt auf das Telefon. «Wenn diese blöde Fuchtel Richtung Holzklasse verschwindet, schalte ich es wieder ein. Ich habe Probleme zu lösen und warte auf wichtige Informationen.»
«Waren das vorhin etwa schlechte Nachrichten, Herr Doktor?»
«Nur ein kleines Ärgernis. Ein Mann und eine Frau, die mich seit einiger Zeit … mit Anrufen und Drohbriefen verfolgen. Offensichtlich sind sie mit an Bord.»
«Das ist ja furchtbar. Kann ich irgendetwas für Sie tun?»
«Nicht nötig, Herr von Trappenberg. Die beiden Stalker werden schon in Wien erwartet.»
«Von der Polizei?»
«Na, sagen wir, von ein paar Sicherheitskräften.» Stranzer wirft Polivka einen vertraulichen Blick zu. «Deshalb schlage ich vor, dass wir dem Trubel ausweichen, es könnte immerhin zu Tätlichkeiten kommen.»
«Ausweichen? Und wie sollen wir das machen?»
«Großräumig.» Mit einer nonchalanten Handbewegung klopft sich Stranzer auf die linke Brust. «Mein Diplomatenpass. Mit dem kann ich mich auf fast allen Flughäfen diskret durch einen VIP-Ausgang empfehlen. Sie und Ihre Sekretärin sind natürlich meine Gäste.»
«Danke», lächelt Polivka. «Das nehme ich gerne an.» Er streckt die Hand aus, um ein weiteres Mal zu seinem Glas zu greifen – und verfehlt es. Eine fahrige Bewegung, wie um sein Versehen korrigieren zu wollen, eine kurze Kollision der Fingerknöchel mit der Sektflöte, und schon ist es passiert: Acht Zentiliter Piper-Heidsieck Brut ergießen sich über Stranzers Mobiltelefon.
«Herrje!», ruft Polivka entsetzt.
Die Gesichtszüge Stranzers versteinern. Drei Sekunden lang lässt sich der Kampf erahnen, der gerade zwischen seinem limbischen System (verantwortlich für die Entwicklung
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