Polivka hat einen Traum (German Edition)
befindet, muss einen Spießrutenlauf durch die Reihen der verärgerten Mitpassagiere absolvieren. Den teueren Platz im Vorderteil, den Polivka ihr edelmütig überlassen wollte, hat sie schon beim Kauf der Tickets abgelehnt. Mit einem strikten «Du bezahlst, ich wähle» hat sie ihm den Jackenaufschlag glatt gestrichen und hinzugefügt: «Dein neuer Anzug ist wie maßgeschneidert für die Business Class.»
Polivka muss nicht lange suchen: In der nur sechs Reihen umfassenden Kabine ist gerade noch ein letzter Gangsitz frei. Obwohl die Abstände zwischen den blauen, samtig weichen Sesseln groß genug sind, um als menschenwürdig durchzugehen, scheint der Mann am Fenster über das Erscheinen seines späten Nachbarn nicht erfreut zu sein. Ohne Polivkas Gruß zu erwidern, starrt er auf den Bildschirm eines nagelneuen Notebooks, das vor ihm auf einem Klapptisch steht.
Der Mann am Fenster ist kein anderer als Tilman Stranzer.
17
Seit dem Start bemüht sich Polivka, mit Stranzer ins Gespräch zu kommen, aber der – geschult durch Koalitionsverhandlungen, Interviews und Pressekonferenzen – blockt erfolgreich ab.
«Cheers», sagt Polivka, hebt sein Champagnerglas und prostet Stranzer zu. Ein kurzer Seitenblick, der Anflug eines Nickens, und der Herr Europaabgeordnete starrt wieder auf sein Notebook. Kleingedrucktes flimmert dort über den Monitor, wahrscheinlich Brüsseler Gesetzestexte und Verordnungen.
«Already Luxemburg», sagt Polivka und deutet aus dem Fenster.
Stranzer konzentriert sich stirnrunzelnd auf seinen Laptop.
«Nice computer», sagt Polivka. «Looks quite new.»
Stranzer lässt ein unartikuliertes Grunzen hören.
Was würde wohl der Generaldirektor Herr von Trappenberg von Trappenberg Incorporated tun?, denkt Polivka. Vorhin am Telefon, da wäre es ein Kinderspiel gewesen, Stranzers Neugierde zu wecken, aber jetzt, als zufälliger Sitznachbar? Trotz allem kann es keine Hexerei sein, eine Unterhaltung anzuleiern: Wenn man den Society-Kolumnen der Boulevardpresse vertrauen darf, sind einander doch die Spitzen der Gesellschaft, die zusammen über fast ein Drittel der gesamten irdischen Besitztümer verfügen, freundschaftlich verbunden. Viele sind es ja auch nicht, gerade ein Prozent der Mitbürger. Man muss nur zeigen, dass man auch dazugehört …
Resignativ greift Polivka zu einem Stapel internationaler Tageszeitungen, die ihm die Flugbegleiterin zuvor gebracht hat, und vertieft sich in ein Exemplar der Reinen Wahrheit .
Sehr viel Neues scheint sich nicht getan zu haben auf der Welt. Die Meldung mit der Schlagzeile CHAOTEN FACKELN AUTOS AB behandelt eine Reihe von europaweiten Brandanschlägen anarchistischer und linkslinker Rabauken, denen in den letzten Tagen vorwiegend Geländelimousinen (also so genannte SUVs) und andere Wagen der Luxusklasse zum Opfer gefallen sind. Weiter unten ein Artikel mit der Überschrift DRAHTESEL LEBEN GEFÄHRLICH . Hier wird Bezug auf eine Studie genommen, der zufolge alle Radfahrer, die ohne Sturzhelm fahren, mit ihrem baldigen Tod zu rechnen haben. Aufhänger der Story ist ein manifester Anstieg der letalen Fahrradunfälle im Lauf der letzten Monate.
Polivka blättert um.
EUROPA GEHT DAS WASSER AUS , lautet die Headline auf der nächsten Seite. Von diversen technischen Errungenschaften ist die Rede, die dem Klimawandel trotzen und die Wirtschaftsproduktivität vor dem Verdursten retten sollen.
Polivka blättert um.
EXPERTEN WARNEN: NEUE PANDEMIE IM ANMARSCH! Ein mit fetten Lettern aufgemachter Beitrag warnt vor einem Vogelgrippe-Supervirus , das – von Asien kommend – bald auch in Europa Einzug halten werde. Wissenschaftler seien, so schreibt der Redakteur, schon intensiv darum bemüht, ein vorbeugendes Serum zu entwickeln.
Polivka blättert um.
DER KONGO MACHT UNS ERST MOBIL , ist auf der nächsten Seite zu lesen. Ein Bericht über die kongolesischen Bodenschätze, die – neben Gold, Diamanten und Kupfer – geschätzte achtzig Prozent der weltweiten Coltanvorkommen umfassen. Dieses Erz ist laut Artikel unverzichtbar für die Herstellung von Handys und Computern. Das Gerücht, es werde unter grausamen Bedingungen in Kinderarbeit abgebaut, sei, wie es in der Reinen heißt, von jenen notorischen Gutmenschen lanciert, die auch behaupten, dass die Förderung des kongolesischen Coltans die letzten Lebensräume des bedrohten Berggorillas zerstöre oder dass der von der Elektronikindustrie bezahlte Kaufpreis vorwiegend der Finanzierung kongolesischer
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