Polivka hat einen Traum (German Edition)
Vergleich dazu ist die EU ein babylonisches Schlaraffenland. Nicht weniger als dreiundzwanzig offizielle Sprachen! Bis da das Gesindel in den Straßen von Palermo, Dublin oder Debrecen einmal kapiert, worum es geht, verschwindet alles unter zentimeterdickem Aktenstaub.» Der Fürst macht eine Pause. Abermals wischt er den Schweiß von seinem Schädel, steckt das Taschentuch zurück und steht dann ächzend auf, um sich die Jacke auszuziehen. Er legt sie – säuberlich gefaltet – auf die Holzbank, setzt sich wieder und fährt fort: «So weit zu den Kulissen, Herr Bezirksinspektor. Jetzt zu meiner Inszenierung. Wie Sie ja wahrscheinlich wissen werden, hab ich jahrelang nur die Provinzbühnen bespielt: Vermittlungsgeschäfte, etwas anderes hab ich ja nicht gelernt. Ein bisserl Pharma, Energie und Telekommunikation, ein bisserl Waffen, aber vorwiegend im nationalen oder bilateralen Rahmen. Vor fünf Jahren muss es gewesen sein, da kommt der Stranzer und erzählt mir von einem EU-Projekt, das kurz vor der Entschließung steht und INDECT heißt. Worum es dabei geht …»
«Ich weiß, worum es dabei geht», sagt Polivka. «Um lückenlose Überwachung des Gesindels in den Straßen von Palermo, Dublin oder Debrecen. Sie haben mir ja vorhin eine Kostprobe gegeben.»
«Aber eine sehr bescheidene. Na, jedenfalls, der Stranzer informiert mich – für den üblichen Tarif – über die Firmen, die voraussichtlich mit dem Projekt beauftragt werden, und ich kauf mir an der Börse einen ansehnlichen Haufen Aktien von einem dieser Unternehmen – gängiges Procedere. Die Kurse steigen, der Herr Abgeordnete amortisiert sich, und so nach und nach wird mir bewusst, was ich da eigentlich an Land gezogen hab: nicht nur beachtliche Renditen, sondern auch den Zugang zu einer schlagkräftigen privaten Einsatztruppe: Smart Security Solutions . Mister Gallagher sind Sie ja schon begegnet – wie er mir von der Komödie in seinem Brüsseler Büro erzählt hat, hab ich mich fast angebrunzt vor Lachen: Ildiko, die Turnerin, und Jenö, ihr Masseur. Respekt, mein Freund, da wär ich gern dabei gewesen.» Oppitz zwinkert Polivka beifällig zu, gerade dass er ihm nicht auf die Schulter klopft. «Nicht lang nach meinem Einstieg in das Sicherheitsgeschäft ist dann etwas passiert, das ich meine persönliche Erleuchtung nennen würde, nämlich das europaweite Glühbirnenverbot. Während die Kommission dem Kontinent die Lichter abgedreht hat, ist mir eines aufgegangen.» Regelrecht entrückt klingt Omars Stimme jetzt, glückselig und verklärt. Sein Blick liegt auf der Lösswand gegenüber, so als strahle ihm aus ihren Schlieren und Furchen eine himmlische Vision entgegen. «Wissen Sie, was mit der winzigsten und unscheinbarsten Brüsseler Verordnung für Geldmengen entfesselt werden? Osram, eine Siemens-Tochter, fährt inzwischen vier Milliarden Euro jährlich nur mit dem Verkauf von Energiesparlampen ein. Die Umsätze der Pharmafirmen explodieren, weil die EU-Gesetze mittlerweile klingen wie die Hausordnung eines immensen Krankenhauses, einer transkontinentalen Besserungsanstalt. Nur ein Federstrich, und schon leert sich das Füllhorn über denen aus, die diesen Federstrich mit konsequenter Lobbyarbeit vorbereitet haben. Standardisierung heißt das Zauberwort, egal, ob sich’s um Lampen oder Briefkästen, um Kinderspielzeug, Kloschüsseln oder Kondome handelt. Siebenundzwanzig Staaten müssen ihr Kanalsystem mit neuen Gullydeckeln ausstatten, wenn die EU-Norm das so vorsieht. Kurz: das ideale Spielfeld für ein neu entwickeltes Publicitymodell, realisiert von meinem kleinen exquisiten Team.» Fürst Oppitz wirft sich in die Brust: ein Opernsänger vor der letzten Arie. «Bei einigen Gesetzesvorlagen», fährt er dann fort, «regt sich ja manchmal immer noch so was wie Widerspruch, nicht nur bei ein paar unbestechlichen Politikern, sondern vor allem in der öffentlichen Meinung. Also braucht die renitente öffentliche Meinung Anreize, um etwas, das sie bisher kategorisch abgelehnt hat, bald schon selbst herbeizugrölen. Anlassfälle , Herr Bezirksinspektor. Anlassfälle, die – von Zeitungen und Fernsehen aufgegriffen – zu einem europaweiten Meinungsumschwung führen. Haben Sie zum Beispiel gestern Zeitungen gelesen?»
«Nur die Reine Wahrheit .»
«Wunderbar. Und was ist drin gestanden?»
Polivka versucht, sich zu erinnern. Er hat eine leise Ahnung, worauf Oppitz abzielt. Eine leise, vage, aber ungeheuerliche Ahnung.
«Einer der Artikel»,
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