Polivka hat einen Traum (German Edition)
gesamte öffentliche Bahnnetz, kurz gesagt: eine europaweite Gurtenpflicht. Die Presse haben wir schon auf unserer Seite, und laut Stranzer liegt die Sache auch schon auf den Schreibtischen der Kommission. Sie müssen sich nur vorstellen, wie viel Gurtband heut schon jedes Jahr gewebt wird. Weltweit siebenhundertfünfzigtausend Kilometer, und zwar ausschließlich für neue PKWs, da sind die Lastwagen und Busse gar nicht eingerechnet. Siebenhundertfünfzigtausend Kilometer, einmal zum Mond und wieder retour! Jetzt rechnen Sie sich aus, was man an einer Zwangsumrüstung aller europäischen Zugwaggons verdienen könnte, nicht allein die Industrie, sondern vor allem die Finanzwirtschaft: Drei Banken und nicht weniger als zehn Versicherungen haben mich in der Sache schon auf die Gehaltslisten gesetzt. Die Banken klarerweise, weil sie wie bei jedem Großprojekt das Geld vorstrecken und sich’s dann mit satten Zinsen von den Steuerzahlern wieder holen. Privatisierung heißt ja nicht, dass man als Aktionär für Außenstände oder gar Verluste seiner Firma selber haften muss; das ist bei den Verkehrs-AGs fast so wie bei den Banken. Aber warum die Versicherungen?» Oppitz zieht verheißungsvoll die Augenbrauen hoch. «Na, sagen wir, Sie steigen in den Zug von Tulln nach Wien. Der fährt zwar nur vierzig Minuten, aber kurz vor Langenlebarn müssen Sie aufs Klo. Sie lösen also Ihren Gurt, obwohl vor Ihrem Sitz ein Warnschild angebracht ist: Anschnallen ist Sicherheit, Sicherheit ist Leben! Unter diesem Merksatz kleben ein paar Ekelfotos: Gesichter mit blutigen Nasen, Leute mit gebrochenem Genick. Ganz unten auf der Tafel noch ein Hinweis: Vorsicht! Bei Nichtbeachtung der Anschnallpflicht erlischt Ihr Versicherungsschutz! Natürlich wissen Sie das längst, die Klausel steht ja auch, sehr klein gedruckt, in den Polizzen Ihrer Reise-, Unfall- und Lebensversicherungen. Trotzdem stehen Sie auf, bei voller Fahrt, und gehen aufs Klo. Sie können sich das leisten, weil Sie beim Kauf Ihres Tickets – gegen einen kleinen Aufpreis – eine auf Dauer der Zugfahrt begrenzte Toilettenversicherung abgeschlossen haben. Wenn Sie glauben, Herr Bezirksinspektor, dass das eine vollkommen absurde Phantasie ist, dass sich das die breite Masse nie gefallen lassen wird, dann lernen Sie Geschichte oder schauen Sie sich ganz einfach auf der Straße um: Mit einer anständigen medialen Aufbereitung lässt sich die Masse für alles gewinnen. Sogar dafür, etwaige Gurtenmuffel bei der Polizei zu denunzieren, weil in der Zeitung steht, sie würden das Sozialsystem belasten.» Oppitz greift zu seiner Jacke, holt das rosa Taschentuch hervor. «So viel zu meiner Bahnkampagne», meint er, während er sich abermals die Stirn betupft. «Ein heikles Unterfangen, deshalb haben Gallagher und ich auch einen unserer Besten darauf angesetzt. Ein Routinier im Tarnen, Täuschen, Töten, kampferprobt und fronterfahren: Lavoix, den Bruder von Frau Guillemain.» Fürst Omar schiebt das Sacktuch ins Jackett zurück. «Apropos Lavoix», bemerkt er beiläufig, «wo steckt der Kerl eigentlich? Und seine beiden Kameraden? Wissen Sie da etwas?»
«Ja», sagt Polivka. «Die drei sind tot. Kollateralschaden.»
«Und wo», fragt Oppitz weiter, ohne eine Miene zu verziehen, «haben Sie sie … deponiert?»
«Dort, wo sie Madame Guillemain und mich gern deponiert hätten. Auf einem Acker an der Brünner Straße.»
«Gut … Sehr gut, dann hätten wir das auch geklärt.» Seltsamerweise scheint die Nachricht Oppitz nicht zu ärgern oder zu bekümmern, sondern beinah zu erleichtern. «Bleibt im Grunde nur noch eine Sache zu besprechen: diese ominöse Speicherkarte. Wenn ich’s mir recht überlege, ist sie eigentlich viel mehr wert als fünfhunderttausend Euro, ganz egal, was da angeblich für Beweise drauf sein sollen.»
«Was meinen Sie damit?», fragt Polivka verunsichert.
«Sie sind ein Träumer, Herr Bezirksinspektor, um das Geld geht’s Ihnen sowieso nicht. Wozu hätten Sie sonst auch versuchen sollen, unsere Unterredung aufzuzeichnen? Nein, Sie wollen mich , Sie wollen meine Haut und meinen Kopf, Sie wollen mich hinter Gittern sehen. So legitim das sein mag, helfen kann ich Ihnen dabei leider nicht. Stattdessen mache ich Ihnen einen Vorschlag: Ihr Kollege, dieser … Hummel?»
«Hammel.»
«Dieser Hammel hat bisher mit einem Auge zahlen müssen, Sie, soweit ich sehen kann, nur mit einem Schneidezahn und Ihre Freundin mit dem Leben ihres Bruders. Falls Sie wirklich
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