Polivka hat einen Traum (German Edition)
der Vertreter der Regierungen der Mitgliedsstaaten in sein Amt berufen worden, und zweitens ist in Brüssel ohnehin kein Kuhhirt oder Bauer unterwegs, der ihm die Meinung sagen könnte.»
«Da erzählen Sie mir nichts Neues. Fünfhundert Millionen Menschen können es sich weder finanziell noch zeitlich leisten, einfach so dorthin zu fahren und auf den Tisch zu hauen, wenn ihnen was nicht passt.»
«Dann wissen Sie wahrscheinlich auch, dass sich dafür ein ganzer Haufen anderer Leute damit abmüht, die EU-Regierung bei ihren Entscheidungsfindungen zu unterstützen. Politikberater, Marketingexperten …»
«Lobbyisten.»
«Nennen Sie es, wie Sie wollen. Natürlich haben die Leute Interessen zu vertreten, irgendwer bezahlt sie ja für ihre Arbeit, und wer zahlt, schafft an. Da können die Sozialromantiker krakeelen, so viel sie wollen: Wenn man sich’s leisten kann, eine Armee aus hauptberuflichen Agitatoren im Machtzentrum Europas aufzustellen, wird einen keiner daran hindern. Und wenn einem die Politiker dann ganz devot den roten Teppich ausrollen, ist das auch kein Wunder. Das bedeutet ja noch lange nicht, dass alle Kommissare oder Abgeordneten bestechlich sind, so wie der gute Doktor Stranzer. Aber woher, bitte, täten die sonst ihre Einfälle und Überzeugungen beziehen, ihre Konzepte für ein besseres Europa? Wenn Sie Kaiser wären, Herr Bezirksinspektor, auf wen würden Sie dann eher hören? Auf einen litauischen Straßenkehrer oder auf die Direktoren von Nestlé, Bayer, Siemens, Thyssen, Philips oder Shell?»
Polivka schweigt. Er mustert Oppitz angewidert, während der ein weiteres Mal sein rosa Sacktuch aus der Jacke zieht, um sich die Stirn zu wischen.
«Und das waren nur sechs aus fünfundvierzig, Herr Bezirksinspektor: fünfundvierzig europäische Konzernchefs, die für einen Jahresumsatz von rund einer Billion Euro stehen, kurz gesagt, ein ziemlich exklusiver Club, so exklusiv, dass er nicht einmal mich aufnehmen tät.»
«Was meinen Sie mit Club ?»
«Ja, haben Sie noch nie vom ERT gehört? Vom European Round Table of Industrialists ? Gegründet worden ist der in den frühen Neunzehnachtzigern, mit dem erklärten Ziel, den Kontinent zu dem zu machen, was er heute ist: ein Eldorado für Konzerne, Manager und Investoren. Der gute alte Klondike war ein Dreck dagegen, sag ich Ihnen; mit ein bissel Kreativität und Know-how brauchen Sie das Gold nur von der Straße aufzuklauben. Aber gut, der Reihe nach: Der ERT hat seinerzeit in Brüssel ein Büro eröffnet und begonnen, Rats- und Kommissionsmitglieder zu bearbeiten, um eine Liberalisierung unserer Märkte durchzusetzen. Sogenannte Handlungsempfehlungen waren da noch ihre sanfteren Methoden. Schließlich haben sie sogar damit gedroht, ihre Konzerne aus Europa abzuziehen, wenn die Kommission nicht spurt, und kurz darauf hat die dann wirklich einen Fahrplan für den großen Binnenmarkt erstellt und ihn vom Rat beschließen lassen, teils mit Formulierungen, die wörtlich aus den Positionspapieren des ERT kopiert waren. Das nenn ich erfolgreiche Intervention, da kann sich unsereiner noch was abschauen.» Oppitz nickt versonnen und pfeift leise durch die Zähne. «Heute sitzt der ERT in allen maßgeblichen Forschungs- und Beratungsgruppen der Union, obwohl er seine Ziele eh schon weitgehend erreicht hat: Handelsfreiheit …»
«Monopole und totale Marktbeherrschung», murmelt Polivka, so leise, dass es Oppitz gar nicht hört.
«Privatisierung beinah aller bisher staatlichen Bereiche, also Energie-, Verkehrs- und Postbetriebe, Wasserwerke und so weiter …»
«Ausverkauf der Grundversorgung», murmelt Polivka.
«Deregulierung des gesamten Arbeitsmarktes …»
«Abbau der Sozialsysteme», murmelt Polivka.
«Vor allem aber, Herr Bezirksinspektor, und das ist der eigentliche Punkt: die vollkommene Machtkonzentration!» Fürst Omar ballt die Fäuste; seine Stimme überschlägt sich vor Begeisterung. «Da, wo Sie früher siebenundzwanzig kleine Knöpfe drücken mussten, nur um jeweils einen Markt von ein paar Millionen Leuten zu erschließen, legen Sie heut einen einzigen Hebel um und haben eine halbe Milliarde Konsumenten in der Hand! Verstehen Sie? Gut achtzig Prozent der Gesetze, die das Alltagsleben der EU-Bürger betreffen, werden in Brüssel gemacht!»
«Es ist ein Horror», nickt Polivka. «Je größer das Gemeinwesen, desto gewaltiger seine Gemeinheit.»
Oppitz stutzt und sieht ihn mit gespielter Überraschung an. «Jetzt sagen S’ aber nicht,
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