Polt - die Klassiker in einem Band
umgeschaut. Aber natürlich kommt zudem jeder Stadel als Versteck in Frage, jedes leerstehende Haus. Morgen früh gehen wir es bei Tageslicht noch einmal an. Aber man sucht ja doch Stecknadeln im Heuhaufen. Sag einmal, Karin, vielleicht bringst du den Direktor Pollak dazu, wenigstens deiner Klasse morgen schulfrei zu geben? Das wäre eine große Hilfe bei der Suche, und Kinder können sich vielleicht eher vorstellen, wo sich Altersgenossen verstecken würden.“
„Gute Idee. Wird kein Problem sein.“
„Na dann.“ Harald Mank stand auf. „Die Kollegen vom Nachtdienst werden noch weiter die Augen offenhalten. Und uns Freiwilligen wird auch der Schlaf nach Mitternacht genügen. Bis morgen früh also. Soll ich dich nach Brunndorf bringen, Karin?“
„Nein, danke.“ Die Lehrerin schüttelte müde den Kopf. „Gendarmen machen mich derzeit verwirrt und ratlos. Nichts für ungut, Harald.“
Am nächsten Morgen war nicht nur die erste Klasse der Hauptschule ausgeschwärmt, auch viele Leute aus Burgheim und Brunndorf, die vom Verschwinden der Buben gehört hatten, halfen bei der Suche mit.
Karin Walter und Simon Polt waren zum Ausgangspunkt ihrer nächtlichen Unternehmung zurückgekehrt und überprüften mit einigen Schulkindern Tür für Tür die aufgelassene Kellergasse. Zwar fehlten da und dort Schlösser, doch die Türen klemmten oder waren halb verschüttet und zugewachsen und ließen sich nicht öffnen.
„Hier brauchen wir nicht weiter zu suchen.“ Karin Walter winkte die Kinder zu sich. „Aber wie wäre es, wenn wir wirklich einmal alles wörtlich nehmen. Zum Beispiel die Sache mit dem ‚geraden Weg‘. Verfolgen wir einfach geradeaus die Richtung dieser Kellergasse weiter. Was meinst du, Simon?“
„Logisch, der Gedanke. Direkt unweiblich. Wir versuchen es.“
An ihrem oberen Ende wurde die Kellergasse zu einem dicht verwachsenen Hohlweg. Simon Polt arbeitete sich mit einiger Mühe durchs Gebüsch. „Hier ist schon lange kein Fuhrwerk mehr gefahren. – Geht’s, Karin? – Kommen die Kinder nach?“
„Von wegen. Die werden uns gleich überholen.“
Nach einiger Zeit war der Weg kaum noch zu erkennen. „Ich hätte als Indianer auf die Welt kommen sollen“, schimpfte Polt, als ihm wieder einmal ein Zweig kräftig ins Gesicht schnalzte, „die schlängeln sich nämlich lautlos durch dichtestes Unterholz. Steht wenigstens so in den Büchern.“
„Das gilt aber nur für die ganz schlanken Indianer.“ Karin Walter wollte hämisch kichern und erinnerte sich gerade noch rechtzeitig daran, daß sie mit diesem Simon Polt eigentlich nicht scherzen wollte.
Einer der Buben war schon ziemlich weit voraus. Plötzlich rief er aufgeregt, und Polt sah ihn winken. Wenig später betrat er neben Karin eine kleine Lichtung, in der drei bescheidene Preßhäuser beieinanderstanden, als hielten sie ein konspiratives Treffen im Walde ab. Eine der Preßhaustüren war einen Spalt geöffnet.
Die Tür ließ sich bewegen, Polt trat ein und blieb verblüfft stehen. „Karin, das mußt du gesehen haben!“ An der Decke des Preßhauses hing ein Luster aus geschliffenem Glas, darunter schmückte ein gußeisernes Grabkreuz die Wand, flankiert von zwei großen Bildern. Das eine zeigte Kaiser Franz Joseph, das andere eine spärlich bekleidete Tänzerin. Neben einem eisernen Bett stand ein Kühlschrank, obwohl Polt nirgendwo eine Steckdose erblicken konnte.
Rasch ging der Gendarm auf die Kellertür zu, öffnete sie, ging ein paar Stufen hinunter und kam langsam zurück. „Wieder nichts. Der Keller ist halb eingefallen, und Wasser ist auch unten.“ Er warf einen Blick auf die kleine Weinpresse und sah einen eingeschnitzten Namen. „Na ja, jetzt ist alles klar. Das ist das Preßhaus vom Ignaz Reiter. Vor gut zwei Monaten ist der alte Sonderling gestorben, 96 Jahre alt. Wir werden die Tür versperren, sonst trägt ihm noch jemand seine Schätze weg.“
Müde und ratlos saß die kleine Gruppe dann im Gras vor Ignaz Reiters Preßhaus. Karin Walter wickelte einen Halm um ihren Zeigefinger. „Und wenn wir noch weiter geradeaus gehen, Simon?“
„Da kommt nichts mehr. Ich weiß jetzt, wo wir sind. Hinter den Bäumen ist nur noch offenes Land, bis zur Grenze hin.“
„Aber die Kellergasse soll ja früher länger gewesen sein, erzählen die Alten.“
„Davon habe ich auch gehört. Doch die Preßhäuser sind weggeräumt worden und die Keller vermauert – dann ist nämlich keiner mehr dafür verantwortlich, wenn einmal
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