Polt - die Klassiker in einem Band
hast wohl geglaubt, ich bin schon hinüber, was?“ Schwarze Augen glänzten belustigt unter unfrisiertem weißem Haar.
Polt war verlegen. „Ich habe Sie lange nicht mehr gesehen.“
„Weil jeder Gendarm einen Blindenhund braucht. Herein mit dir!“ Polt setzte sich folgsam in Bewegung, lehnte sein Fahrrad an die Hausmauer und trat ein. Er gelangte in einen überdachten Raum, der nach hinten durch eine Holzwand mit Tür und Fenstern abgeschlossen war. Auf einem einfachen Tisch, der zur Wand hochgeklappt werden konnte, lagen Kräuter zum Trocknen aufgebreitet, auf dem abgetretenen Bretterboden standen Näpfe und kleine Teller. „Für die Katzenviecher aus der Nachbarschaft“, erläuterte Frau Stirbl. „Die Biester fressen mich noch arm.“ Sie rückte für ihren Besucher einen Sessel zurecht. „Bleiben wir gleich hier. Das macht am wenigsten Umstände.“ Dann ging sie in die Küche und kam mit einer halbvollen Flasche Wein und zwei ziemlich schmutzigen Gläsern zurück. „Auf dein Wohl.“
Simon Polt betrachtete die trübe Flüssigkeit mit einigem Mißtrauen. „Und auf Ihr Wohl, Frau Stirbl!“ Hastig goß er den Wein hinunter und legte die Hand auf sein Glas, als seine Gastgeberin nachschenken wollte. „Vielen Dank. Es ist noch zu früh für mich zum Trinken. Aber etwas anderes, wenn ich fragen darf. Wie alt sind Sie jetzt eigentlich?“
„Ich? Wie alt? 96, mein Lieber. Dreißig Jahre ist es jetzt schon her, daß mein Mann tot ist, der Alois. Na ja. Viel war nie los mit ihm.“
„Noch eine Frage: Haben Sie von dem Unfall gestern abend was bemerkt, Frau Stirbl?“
„Ich hab’s Hupen gehört, dreimal hintereinander, und dann hat’s einen ordentlichen Kracher gegeben. Natürlich bin ich zum Fenster wie die anderen Nachbarn auch. Der Riebl Rudi, dieser Erzgauner, ist neben seinem Moped gelegen, und der Herr Breitwieser hat sich sofort um ihn gekümmert. Kann einem leid tun, der Mann.“
„Glauben Sie, daß sonst jemand etwas gesehen hat?“
„Natürlich, die Fuchs Hilda. Den ganzen Tag schaut sie aus dem Fenster. Dabei könnte sie auch arbeiten, jung wie sie ist.“
„Wie jung?“
„Nicht einmal siebzig. Heute ist sie übrigens in aller Früh zu ihrer Schwester nach Breitenfeld gefahren. Werden allerhand zu bereden haben, die zwei Beißzangen. So, jetzt muß ich dich hinauswerfen, Simon. Ich habe dem Schuster Josef versprochen, daß ich ihm beim Rebenveredeln helfe.“
„Beachtlich, wie Sie in Form sind, Frau Stirbl.“ Polt wandte sich zum Gehen.
„Merk dir, Simon“, auch die alte Frau war aufgestanden. „Man darf nichts auslassen im Leben, kein Vergnügen und keinen Streit. Das hält frisch. Auf Wiedersehen also.“ Freundlich, aber mit Nachdruck, schob sie den Gendarmen zur Tür.
Polt stieg auf sein Fahrrad, hob grüßend die Hand und fuhr langsam durchs Dorf. Ohne viel darüber nachzudenken, bog er in den nach Norden führenden Güterweg ein, von dem Horst Breitwieser gesprochen hatte. In dieser Gegend verebbten die Hügel des Wiesbachtales im flachen Land. Polt erreichte eine kleine Baumzeile. Früher, erzählten die Leute, hatte es auch hier eine Kellergasse gegeben. Ein einziges Preßhaus war noch übrig. Ein paar hundert Meter weiter war der Weg nicht mehr asphaltiert, und Polt hielt sich an eine der Radspuren.
Hinter einer Buschgruppe bog der Weg nach Westen ab, und nun war der Runhof zu sehen. Schwer und bestimmend lag der große Gebäudekomplex in einer flachen Senke. Als Polt näher kam, bemerkte er, daß Dachziegel fehlten und Fensterscheiben zerbrochen waren. Durch die Maueröffnungen des Stallgebäudes drang matter Lichtschein, es stank nach Viehmist. Das mächtige Hoftor mit seiner schönen barocken Umrahmung hing schief in den Angeln. Daneben gab es eine kleinere, mit Eisenblech beschlagene Tür, die einen Spalt offenstand. Simon Polt wollte gerade anklopfen, als die Tür vollends aufschwang. Ein großgewachsener, breitschultriger Mann trat ihm entgegen. „Was haben Sie hier zu suchen?“
„Simon Polt ist mein Name. Ich hätte gerne mit Herrn Breitwieser geredet.“
„So, mit dem. Der Unfall, nicht wahr?“
„Ja, der Unfall.“ Polt schaute sein Gegenüber ruhig an. Er hatte noch nie einen so schmutzigen Menschen gesehen, die Arbeitskleidung schien noch sauberer zu sein als die grindige Haut.
„Ich bin Fritz Brenner, der Mann für den Stall. Ich wollte nicht unfreundlich sein, aber das wird man irgendwann, hier draußen. Und wünschen Sie sich nicht, daß ich
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