Poltergeist
würde am offenen Ende der Gasse auf die Straße treten können, ohne dass ihn möglicherweise ein Polizist entdeckte. Vielleicht kam es sogar zu irgendeinem Zwischenfall. Eine Streife würde mit Blaulicht die Straße hinunterrasen, und er hätte Zeit, in eines der halbleeren Gebäude oder unter den Freeway nach Little Saigon zu schlüpfen. So würde er durch Hintergassen unbemerkt bis nach Rainier Valley oder den First Hill hinaufgelangen, und kein Polizeiauto würde ihm folgen können. Wenn ihn die Polizei nicht sofort entdeckte, wäre es kein Problem für Ian, einfach im Chaos der heruntergekommenen Viertel von Downtown zu verschwinden.
Mein Knie pochte. Es brauchte dringend Ruhe und Eis. Ich ging zu meinem Auto zurück.
In meinem Büro sah ich rasch im Internet nach, was es mit dem Wah Mee auf sich hatte. Mir blieben noch einige Stunden Zeit, bis es dunkel wurde. Die Informationen, auf die ich stieß, jagten mir einen kalten Schauer über den Rücken.
Über das Wah Mee gab es viel zu lesen. Es war ursprünglich gar kein Laden, sondern eine Flüsterkneipe mit illegalem Alkoholausschank gewesen und hatte sich mit der Zeit in einen schicken Nachtclub verwandelt, wo der International District die ganze Nacht durchtanzte und einige der größten Namen der Jazz-Geschichte auftraten. Um 1983 war es wieder ein wenig stiller um die Bar geworden. Anschließend hatte sie einen privaten Spielclub für die örtlichen Geschäftsleute beherbergt. In der Nacht des 18. Februar 1983 waren drei junge Chinesen in den Club
eingedrungen, hatten vierzehn ihrer Nachbarn gefangen gehalten, sie ausgeraubt und dann erschossen. Nur einer überlebte. Das »Wah-Mee-Massaker« war der schlimmste Massenmord in der Geschichte des Staates Washington gewesen. Doch die meisten Leute wussten nichts davon, während andere, wie der Besitzer der Tierhandlung, nicht daran erinnert werden wollten, dass ihre Gemeinschaft durch drei ihrer eigenen Leute verraten worden war.
»Die Flasche ist zerbrochen, und der Geist ist geflohen«, knurrte Carlos unheilvoll. Seine Beunruhigung war ansteckend und traf mich wie ein kalter schwarzer Regen. »Das ist nicht gut.«
Ich hatte ihm erzählt, was vorgefallen war, während wir nach Chinatown fuhren.
»Nein, ist es nicht«, stimmte ich zu, weigerte mich aber, eine entschuldigende Erklärung abzugeben. »Wir müssen uns eben darauf einstellen. Die gute Nachricht ist, dass ich Ian gefunden habe – oder zumindest den Ort, wo er sich höchstwahrscheinlich versteckt hält. Er befindet sich zwar außerhalb der polizeilichen Observierungszone, aber ganz in der Nähe fahren immer wieder Polizeiautos vorbei. Hier und da sieht man auch Patrouillen zu Fuß. Wir müssen uns vorsichtig von Osten nähern und so schnell wie möglich durch die Tür kommen. In dieser Gasse gibt es zwei Türen. Beide sind mit einem Vorhängeschloss versperrt, aber Ian muss ja auch irgendwie reingekommen sein. Früher gab es wohl einmal eine Tür in der King Street, aber dort ist jetzt ein Import-Export-Laden, der keinerlei Verbindungen mehr zum alten Club hat. Ich glaube, ich könnte problemlos hinein, aber nicht auf eine Weise, die für dich in Frage kommt. Und es wäre mir sowieso lieber, wenn wir zusammenblieben.«
Wieder ließ er ein finsteres Knurren hören. »In Ordnung. Da du den Poltergeist nicht einfach in deine Falle kippen kannst, musst du sie erst einmal aufstellen und ihn dann hineinlocken.«
»Das wird nicht leicht – oder?«
»Nein, habe ich auch nie behauptet. Aber vor allem am Anfang wird das Risiko sehr hoch sein, und jetzt haben wir auch weniger Zeit. Die Polizei wird neugierig werden, wenn wir uns irgendwie auffällig verhalten.«
»Ich weiß. Und der zuständige Kommissar kennt mich noch dazu.«
»Klingt alles recht kompliziert.«
»Wir dürfen ihm einfach nicht unter die Augen kommen, bevor wir fertig sind. Dann verschwindest du, und ich bügele das mit dem Einbruch aus.«
Carlos schwieg für den Rest der Fahrt.
Ich parkte das Auto unter dem Freeway und hielt Carlos zurück, ehe er aussteigen konnte, denn ich wollte ihm noch etwas geben.
»Das ist ein Umhang«, sagte ich.
Er sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Wir müssen etwa drei Blocks an einer Hauptstraße entlang, wo es vor Polizei nur so wimmelt«, erklärte ich. »Heute ist Halloween. Also wird uns niemand verdächtigen, wenn wir uns kostümieren. Ist doch eine gute Idee!« Irgendwie kam es mir inzwischen etwas idiotisch vor, auch wenn es
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