PolyPlay
Ermittlungen gehabt hätten, hätten sie ihn nicht gebraucht. Aber offenbar steckten sie fest und versuchten jetzt gnädigerweise, den Mist auf der normalen Kripo abzuladen, im Klartext: auf ihm. Natürlich nicht, ohne die wie so oft gegebene politische Dimension des Falles im Blick zu behalten und ihn, Kramer, mit einem kleinen Schmierenstück in diese Richtung schubsen zu wollen. Mischa Wolf, um Himmels willen! Und welche Funktion hatte eigentlich dieser Mutant neben Wolf bei dem Ganzen gehabt?
Kramer hasste es, gefoppt zu werden. Auf diese Weise gefoppt und manipuliert zu werden hasste er ganz besonders. Arschgeigen. Geheimniskrämerische, arrogante, antisozialistische Arschgeigen. Dass die in der Bevölkerung so verhasst waren, war kein Wunder. Und jetzt sollte er die Dreckarbeit für die Brüder machen? Die können mich mal, dachte er. Da werd ich ermitteln wie Oma Erna in ihrem Nähkästchen. Nix wird dabei herauskommen. Schon gar nix Politisches. Macht euren Scheiß doch alleine.
Kramers Schatten fiel auf die renovierten Gehwegplatten. Ihm wurde warm in seinem Mantel. Er nahm seine Mütze ab. Erschrocken stellte er fest, dass es schon halb zwei war, und als das ganze Gewicht dieser Erkenntnis in seinen Magen sank, fing der regelrecht zu knurren an. Ich muss was essen, dachte er.
Zwischen die runderneuerten Plattenbauten der Allee hatte man ein neues »Kulturhaus« hingeklotzt, wie die Vergnügungspaläste standardmäßig genannt wurden, die in den letzten ein, zwei Jahren in allen Stadtteilen aufgetaucht waren. Sie hatten mit den traditionellen Kulturhäusern in der Provinz wenig zu tun, im Vergleich mit verschlafenen Tanzsälen machten sie nämlich einen geradezu neureichen Eindruck. Kinos, Restaurants, Bowlingbahnen, Schwimmbad, Nachtclub, Tischtennis, Turnhalle: alles da, alles vorhanden. Die Dinger waren ausgesprochen beliebt. Wenn man die kleineren Räumlichkeiten mieten wollte, musste man mit langen Wartelisten rechnen. Kramer mochte sie nicht besonders, das alles war ihm zu neu und gelackt, zu deutlich auf Repräsentation und »was Besseres« aus – dem entsprachen auch die Preise, die sich immer an der oberen Grenze des Erlaubten bewegten.
Aber das spielte jetzt keine Rolle, er musste was essen, und in dem Glaskasten mit der prämierten Architektur gab es Restaurants. Nix wie rein. Die Rolltreppe rauf in den ersten Stock. Von der Rolltreppe aus sah er ein paar Rentner Schach spielen, an den öffentlichen Granittischen in der großen Halle. Sie wirkten ein wenig verloren, einer hatte seinen Kopf auf den Tisch gelegt und schien zu schlafen. Oben, auf der ersten Galerie, gab es fünfmal Gastronomie: Chinesisch, Russisch, ein Schnellrestaurant für Eilige, ein Café und ein »Bistro«. Kramer hielt schnurstracks auf das Chinarestaurant zu. »Hühnchen Hongkong-Art« war jetzt genau das Richtige, das ging immer, das machte immer satt. Roter Stern Peking war über dem Eingang in Buchstaben zu lesen, die an chinesische Schriftzeichen erinnern sollten; alles stilecht schon auf weite Entfernung. Wahrscheinlich Preisstufe S oder S plus 1.
Vor dem Restaurant warteten Gäste auf ihre Platzierung. Früher hatte die Platzierung den Sinn gehabt, Pausen zu ermöglichen, damit es nach Planübererfüllung nicht zu höheren Planvorgaben für das nächste Jahr kam. Außerdem hatten sich die Kellner eine Stammkundschaft aufgebaut, die mit Trinkgeld um sich warf, um nicht warten zu müssen. Heute diente die Platzierung vor allem teureren Restaurants dazu, Status zu demonstrieren. Vor dem chinesischen und dem russischen Restaurant und vor dem Bistro gab es also Warteschlangen, das Café und das Schnellrestaurant waren platzierungsfrei. Aber Kramer hatte keine Lust auf Kaffee und Kuchen und auch nicht auf schnelles Essen, er wollte was Richtiges. Andererseits hatte er keine Zeit zu warten. Er wollte gerade mit gezücktem Ausweis an dem Platzierungs-Zeremonienmeister vorbeigehen, als er von hinten angezischt wurde. »Unerhört!« – »Gibt's denn so was!«
Eine kleine, feine Stimme in seinem Kopf wollte ihn von einer Reaktion abhalten, aber seine Frustrationstoleranz war für heute ausgereizt. Als er sich umdrehte, stachen ihm zwei gut gekleidete Herren ins Auge: dunkles Tuch, goldene Manschettenknöpfe, kleine Ledertaschen an den Handgelenken, in denen sie wahrscheinlich ihr elektronisches Bürospielzeug spazieren führten.
Kramer wusste auf den ersten Blick, mit welcher Kundschaft er es hier zu tun hatte. Das waren
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