PolyPlay
Hause. Anette war schon da. Sie setzte sich zu ihm, als er sich aufs Sofa legte. Auf ihre besorgten Nachfragen antwortete er nur, er habe vielleicht etwas Falsches gegessen. Anette machte ihm einen Kamillentee.
Am nächsten Morgen war er bereit, die posthume Botschaft von Merz als Teil einer spontanen psychotischen Episode zu betrachten, die auch zu seinem Tod geführt hatte. Merz war durchgedreht. So was kam vor. Vor ein paar Jahren hatte ein Polizist aus Moabit in einem Anfall von Wahnsinn seine ganze Familie ausgelöscht, auch mit der Dienstwaffe. Merz war an einen ähnlichen Bruchpunkt gekommen, und weil er sich schämte und nicht weiterwusste, hatte er seinen Nachforschungen zu den verschlüsselten Dateien Michael Abuschs einen Sinn untergeschoben, den sie nicht hatten. Kramer kannte das von Leuten, die mit einem Mord an den Händen vor ihm saßen und ihm erzählten, sie seien es nicht gewesen oder sie hätten das Opfer doch nur geschubst. Merz hatte eine Rechtfertigung für eine Verzweiflungstat gesucht, deren wirkliche Ursachen vielleicht nicht einmal er selbst kannte. Und diese Rechtfertigung war ihm wichtig genug gewesen, um sie Kramer noch nach seinem Tod auf die Nase binden zu wollen. Die arme Franziska Merz. Hoffentlich hatte er ihr nicht etwas Ähnliches hinterlassen. Kramer sprach mit niemandem über die Eskapade von Merz. Er wollte sein Andenken nicht beschädigen.
Gerade an diesem Morgen wurde ihm die Macht des Gewissens demonstriert. Der Raubmord, den Lobedanz ihm vor zwei Tagen zugeschustert hatte, erwies sich als leichter Fall. Der Hauptverdächtige, noch nicht verhaftet, aber nahe dran, verwickelte sich bereits massiv in Widersprüche, und nach ein wenig Hin und Her hatten Pasulke und Kramer ihn so weit, dass er zugab, »im Prinzip« mit dem Tod des Opfers etwas zu tun zu haben. Das ganze stellte sich als eine miese kleine Geschichte aus dem kriminellen Milieu heraus. Der Täter war ein Einbrecher. Er hatte Spielschulden und brauchte dringend Geld. Daher hatte er in der Verzweiflung einen Rentner erschlagen, um an dessen Ersparnisse zu kommen. Beute: 308,74 Mark und einige Scheine in altem Westgeld, das der Rentner aufbewahrt hatte, obwohl es schon lange keinen Wert mehr hatte.
Die Sachlage war eindeutig. Die Fingerabdrücke passten, die Tatwaffe war bei dem Täter gefunden worden, und nach seinem »prinzipiellen« Teilgeständnis war die Sache ohnehin gelaufen. Aber immer noch behauptete er, dass der Rentner nicht wirklich von ihm getötet worden war, obwohl er ihn »im Prinzip« schon geschlagen habe, das ja, aber nicht fest genug. »Der muss wat jehabt haben.« Berlin im Jahre 2000. Kramer verhaftete ihn vom Fleck weg.
Beim Abfassen seines Berichts achtete er ganz bewusst darauf, »t« nicht mit »z« zu verwechseln.
Kramer war auf der Jagd nach einem Buch und einem Blumenstrauß. Der Raubmordfall war abgeschlossen (Kramer hatte kurz vor Dienstschluss noch einmal mit Lobedanz darüber geredet), und weil sonst nichts Gewichtiges anlag, war er etwas früher gegangen als sonst. Nach den Aufregungen der letzten Zeit wollte er sich mit einem guten Buch belohnen. Anette hatte schon länger keine Blumen mehr von ihm bekommen. In einem »florist«-Geschäft der OGS fiel ihm ein schönes Bouquet aus Fresien und weißen Röschen auf. Er ließ es noch ein wenig mit Gartengrün und schönem Einschlagpapier verzieren und fand es dann sehr passend. Der hohe Preis ärgerte ihn, und er musste über seinen Geiz lachen.
Die Volksbuchhandlung Friedrichshain war ganz in der Nähe. Das neue FDJ-Kochbüchlein von Benjamin von Stuckrad-Barre war gerade erschienen. Stuckrad-Barre, ein junger schreibender FDJ-Kader, hatte sich mit seinen süffisanten Possen über den Staatsapparat der DDR einen Namen gemacht. Alles, was er schrieb, war frech genug, um die Bedürfnisse eines begeisterten Publikums nach ein wenig Motzerei und Satire zu befriedigen, und gleichzeitig harmlos genug, um bei den Behörden kein ernsthaftes Stirnrunzeln auszulösen. Sein FDJ-Liederbuch mit leicht umgedichteten Parteihymnen, Fahrtenliedern und ähnlichem war einhunderttausend Mal gedruckt worden, und er wies in Interviews immer wieder darauf hin, dass es auch einhunderttausend Mal gekauft worden war – »derzeit vergriffen« hieß es, wenn man es bestellen wollte. Das FDJ-Kochbüchlein war nach demselben Strickmuster aufgemacht: kleine Spitzen gegen den bürokratischen DDR-Alltag, verpackt in neckische Anekdoten um Kochen, Backen
Weitere Kostenlose Bücher