PolyPlay
überhaupt geflohen? Er hatte Kramer für einen der Angreifer gehalten, das war die einzig mögliche Erklärung. Der Mann blieb verschwunden.
Buch und Blumenstrauß fand Kramer nicht mehr.
»Wird heute später«, stand auf dem Zettel, der in einer Untertasse auf dem Küchentisch lag. Kramer war enttäuscht. Er hätte gerne mit Anette über sein seltsames Erlebnis gesprochen, und er hätte ihr auch gerne erzählt, dass er Blumen für sie gekauft hatte. Aber es würde später werden. Kramer ahnte: so spät, dass ein Gespräch dann nicht mehr lohnte.
Er versuchte sich vor dem Fernseher zu entspannen. Das misslang. Der Hauptbericht der Aktuellen Kamera handelte von Helmut Kohl. Der letzte Kanzler der BRD hatte versucht, ein Urteil des Bezirksgerichts Bonn gegen ihn durch das Oberste Gericht in Berlin aufheben zu lassen. Die Haftstrafe, die das Bezirksgericht verhängt hatte, war jedoch vom Obersten Gericht bestätigt worden, und die Aktuelle Kamera zeigte ihn auf dem Weg in den Knast, begleitet von zwei Kollegen Kramers, die ihn an den Armen hinter sich herzogen. Das wirkte fast komisch: Der dicke Riese wurde von zwei Männern eskortiert, die beide um einen Kopf kleiner waren als er; die drei sahen aus wie Zirkuswärter mit ihrem Tanzbären.
Die Aktuelle Kamera erwähnte, dass es Zweifel an der Rechtmäßigkeit von Kohls Haftstrafe gab, die aber unbegründet seien. Kohls Rechtsanwalt wurde interviewt und behauptete, das Bonner und das Berliner Urteil hätten keine echte gesetzliche Grundlage. Der vor drei Jahren neu geschaffene Straftatbestand »Korruption« sei eine »Lex Kohl«, und die DDR sperre den ehemaligen Bundeskanzler für ein Vergehen ein, das es zum Zeitpunkt der Tatbegehung in der DDR gar nicht gegeben habe und noch heute nicht gebe: illegale Parteienfinanzierung. Ein Verfassungsrechtler der Bonner Universität erwiderte: Korruption sei in jedem zivilisierten Land der Erde strafbar, daher seien die Urteile gegen Dr. Helmut Kohl gerecht. Kohl durfte noch einmal seinen Fans winken, die ihn bis vor die Tore der Haftanstalt Preungesheim begleitet hatten, dann schloss sich die graue Stahltür hinter ihm. Kramer schaltete ab. 19:48 Uhr zeigte die alte digitale Küchenuhr. Viel zu früh, um schlafen zu gehen. Viel zu spät, um den Abend noch richtig zu planen.
Kramer hängte seine Jacke an die Garderobe. Bei seiner Heimkehr hatte er sie achtlos über das Sofa im Wohnzimmer geworfen, jetzt räumte er sie weg, weil Anette umherliegende Klamotten im Wohnzimmer hasste. Er fischte sein Mobi aus der Innentasche, um es in die Ladestation zu stellen. Dabei erwischte er auch ein zerknittertes, gefaltetes Papier. Kramer stutzte: Ach ja, das hatte ihm der Verletzte gegeben, bevor er losgelaufen war. Er öffnete es.
Bei dem Papier handelte es sich um eine Werbepostkarte für die Frankfurter Allgemeine – Zeitung für Deutschland, die mindestens zehn Jahre alt sein musste. »Die Frankfurter Allgemeine (Zeitung für Deutschland) sendet jedem Leser kostenlos ein Buch im Werte von DEUTSCHE MARK – Zwanzig – UND MEHR, wenn er der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen neuen Abonnenten (der noch nicht ihr Bezieher war) für mindestens sechs Monate zuführt«, las Kramer. Er musste ein wenig über den Begriff »zuführen« schmunzeln, der in der DDR immer noch »verhaften« bedeutete. Alternativ zu dem Buch versprach die Werbeabteilung der Zeitung dem Zuführer einen »Leuchtglobus«, der aber erst abgesandt wurde, wenn die Bezugsgebühren für zwölf Monate bezahlt waren. Zehn Jahre? Nach Machart und Stil war diese Karte mindestens zwanzig Jahre alt. Vielleicht stammte sie sogar aus der Mitte der Siebziger, die Sprache passte. Was sollte das? Seines Wissens war die Frankfurter Allgemeine nach der Wende mit der Frankfurter Rundschau zur Frankfurter Zeitung zusammengelegt worden. Wer konnte ein Interesse daran haben, jahrzehntealte Werbepostkarten einer Zeitung aufzubewahren, die es schon lange nicht mehr gab?
Kramer drehte die Postkarte um. Rechts oben, unter der Markierung für die Briefmarke (»Gebühr bezahlt Empfänger«), war etwas mit Bleistift notiert worden. Die Handschrift war zittrig, der Bleistift war hart gewesen, und Kramer entzifferte mühsam: »S. 29, R.!«
Na denn, dachte Kramer und ging in die Küche, um das Mobi zu versorgen und die dämliche Postkarte wegzuwerfen. Dabei kam er durchs Wohnzimmer, und ihm fiel auf, dass das Buch über die Finanzdelikte auf dem Couchtisch lag. Er wollte gerade
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