PolyPlay
eine Gruppe für sich. Sie waren in ein leises und angeregtes Gespräch vertieft, und Kramer, der ein paar Plätze weiter vor seiner immer kälter werdenden Suppe saß, wollte sie nicht dabei stören.
Als er später aufs Klo ging, traf er Lobedanz vor der Tür zu den Pissoirs. Er hatte mit seinem Chef noch nicht sprechen können, seit er aus Dänemark zurück war, denn Lobedanz war immer beschäftigt gewesen, und Kramer hatte sich nicht aufdrängen wollen. Jetzt ergriff er die Gelegenheit beim Schopf.
»Achim.«
»Rüdiger.«
»Diese Abusch-Sache.«
»Ja?«, fragte Lobedanz in leicht gereiztem Tonfall, während er sich die Hände rieb, die noch ein wenig feucht waren.
»Jochen hat mir gesagt, der Fall ist abgeschlossen.«
»Richtig.«
»Ich hab noch nie von einem Mordfall gehört, der nach drei Wochen abgeschlossen wird. Außer, wenn er geklärt ist.«
Lobedanz sah auf. »Jetzt hör mir mal gut zu. Wir haben keine Spuren. Wir haben keine Zeugen. Wir haben nichts von der Gerichtsmedizin. Du merkst, dass dieser Fall politisch heiß ist; ich merke es auch. Ich bin gern bereit, ein Tänzchen zu wagen, wenn ich etwas in der Hinterhand habe, aber hier bringt das überhaupt nichts. Wenn wir irgendeinen Hebel finden, irgendetwas Substantielles, dann können wir weitermachen. Sonst nicht.«
Er richtete seinen Zeigefinger auf Kramer.
»Du lässt auf jeden Fall die Finger davon. Du bist draußen.«
»Und wenn der Tod von Merz was damit zu tun hat?«, entgegnete Kramer.
Lobedanz sah ihn kopfschüttelnd an. »Manchmal denke ich, du hast sie nicht alle.«
Genau in diesem Moment kam Akkermann die Treppe herunter, und Lobedanz nutzte die Gelegenheit, das Gespräch abzubrechen. Als Akkermann an Kramer vorbeiging, grinste er breit. Er hat gelauscht, dachte Kramer.
»Mach dir die Hosen nicht nass«, sagte er, als Akkermann im Klo verschwunden war.
Am Abend überraschte ihn Anette mit zwei Kinokarten für den neuesten Film mit Armin Müller-Stahl. Der Film war mäßig, aber danach schliefen sie miteinander, zum ersten Mal seit Monaten. Für einen Abend vergaß Kramer Abusch, Akkermann und den ganzen Rest.
Auch am 1. Mai war noch spektakulär gutes Wetter. Die Mai-Demonstration verlief in entspannter Atmosphäre. In den Jahren seit der Wende hatte sie sich immer mehr in ein Volksfest zum Frühlingsanfang verwandelt. Kramer lief zwar mit den Genossen von der Polizeiinspektion zum Alexanderplatz (einige von ihnen waren schon regelrecht besoffen), aber dort angekommen traf er sich mit Anette und ihren Kollegen und Kolleginnen von der Wismut, die er schon bei früheren Treffen angenehm gefunden hatte.
Im Vorjahr war Fidel Castro auf Staatsbesuch gewesen und hatte auf dem Alexanderplatz eine seiner gefürchteten siebenstündigen Revolutionsmeditationen abgehalten. Erstaunlicherweise hatte die Berliner Bevölkerung das als eine Art Happening begriffen. Ganze Freundschaftscliquen waren mit Bier und Schnaps hingezogen, etwa wie zu den Motorradrennen am Schleizer Dreieck, und nach der Rede hatten sie die hübschen Kubanerinnen gesucht, von denen Castro einige mitgebracht haben sollte.
Die Stimmung am 1. Mai war seit einigen Jahren ähnlich. Rede des Staatsratsvorsitzenden, Musik für verschiedene Geschmäcker auf fünf verschiedenen Bühnen, Volksfest. Kramer hörte sich gemeinsam mit Anette die Rede von Modrow an, die erwartungsgemäß vom Sozialismus handelte, aber erfrischend kurz war.
Kramer und seine Frau wanderten auf dem Platz herum, der von Buden gesäumt war wie bei einem Jahrmarkt. Sie trafen Bekannte. Es wurde viel getrunken. Aus der einen oder anderen Ecke wehte der Geruch von selbst gezogenem Marihuana heran. Die letzte Ernte schien ertragreich gewesen zu sein. Gegen Mittag gab es noch ein paar Schauflüge der Luftwaffe mit Hubschraubern und Düsenjägern – die DDR hatte die MiG 29 mittlerweile in eigener Regie weiterentwickelt und zeigte das Ergebnis gerne vor. Die Düsenjäger zogen schwarze, rote und gelbe Rauchbänder hinter sich her, und die Zuschauer duckten die Köpfe, wenn die Flugzeuge über sie hinwegdonnerten. Auf die ermüdenden NVA-Paraden verzichtete man mittlerweile, und alle waren froh darüber.
Erst auf dem Weg nach Hause merkte Kramer, wie angespannt und nervös er war. Auch das Gewitter am Abend brachte keine Erleichterung.
Hinweise nimmt jede Polizeidienststelle entgegen
»Wie war meine Beerdigung?«
Kramer fuhr herum. Er hatte in seinem Büro wieder einmal Polyplay gespielt,
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