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PolyPlay

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Titel: PolyPlay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Hammerschmitt
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weitergehen, als ihm siedend heiß einfiel, dass die Leihfrist für das Buch längst abgelaufen war. Er versuchte sich das Gesicht der Bibliothekarin vorzustellen, wenn er wie ein armer Sünder bei ihr auftauchte, um ein Buch zurückzugeben, das mehrere Wochen zu lange in seinem Besitz gewesen war. In seinem Kopf klickte etwas. Nein, das war ein wirklich zu verrückter Gedanke. Aber wie unter Zwang nahm er das Buch und blätterte bis zur Seite 29 durch. Er zitterte. Auf Seite 29 begann das Kapitel »Zur Latenz bei Finanzdelikten unter Missbrauch der EDV«. Unten, gleich neben der Seitenzahl, stand eine Notiz, wiederum mit Bleistift geschrieben, wiederum in schwer lesbarer Handschrift. »5.5. Späthbrücke, 21.00 Uhr«. Kramer blätterte die Seiten durch: nirgendwo sonst Randbemerkungen oder etwas dergleichen. Er ging in die Küche.
    Das ist doch klassisch, oder? So fängt eine Psychose an, nicht wahr? Zusammenhänge dort sehen, wo keine sind, Bedeutung in Zufälle hineinlegen, die keine haben, Verschwörungstheorien, die Idee, dass man beobachtet wird. Nicht zur Späthbrücke gehen. Einen Arzt aufsuchen. Frau Dr. Lorenz in der Charité. Vielleicht hat sie ja heute Abend Dienst. Er prüfte noch einmal Postkarte und Buch: alles wie gehabt. Ein Zufall. Ein extrem unwahrscheinlicher Zufall. Nichts überstürzen.
    Quatsch mit Soße, meldete sich eine Stimme in ihm. Kramer erkannte sie gleich. Es war die Stimme der Vernunft. Nüchtern, unpathetisch, klar. So viel Zufall gibt's gar nicht. Das hier hat auf jeden Fall eine Bedeutung. Entweder bin ich verrückt, oder jemand will mir was sagen. Ich find's nicht heraus, wenn ich nicht hingehe. 20:01 Uhr. Aus der Küchenschublade zog er einen zerfledderten Plan von Großberlin (Hauptstadt der DDR) und suchte nach der Späthbrücke. Sie lag in Britz (Bez. Neukölln) und führte über den Teltowkanal nach Johannisthai (Bez. Treptow). Eine vergleichsweise dünn besiedelte Gegend, wie auf der Karte zu sehen war. Wenn er sich beeilte, konnte er es schaffen.
     
    Die Späthbrücke lag wirklich in einer sehr dünn besiedelten Gegend. Kramer kam sich beinahe wie auf dem flachen Land vor. Ihm war schon öfter erzählt worden, Berlin bestehe noch heute aus Dörfern; hier stimmte es. In der Ferne die roten Dächer von Späthsfelde. Die Brücke: verlassen. Kein Auto, kein Mensch. 21:03 Uhr. Konnte es sein, dass er schon zu spät war? Konnte es sein, dass er sich hier zum Narren machte, weil er Sachen zusammenrechnete, die nichts, aber auch gar nichts miteinander zu tun hatten? Wie würde er sich fühlen, wenn er einen halben Abend damit verbracht hatte, zu einer gottverlassenen Kanalbrücke am Rande Berlins und zurück zu fahren, nur weil er glaubte, dort Hinweise auf einen abgeschlossenen Mordfall zu finden?
    Die Brücke war unspektakulär, um nicht zu sagen, hässlich. Eine Konstruktion aus Eisenstreben, die eine Fahrbahn für Autos und zwei Gehwege zur Verfügung stellte, einer rechts lang, einer links, fertig. Die Brücke überspannte den Teltowkanal, dessen träges und glattes Wasser Kramers Silhouette spiegelte, als er von der Brücke hinuntersah. Er konnte keine Strömung ausmachen. Das Wasser war vollkommen still. Kramer überlegte sich eine Strategie, um auf sich aufmerksam zu machen. Er würde, so sein Plan, immer über die Brücke hin- und hergehen, auf dem linken Gehweg nach Treptow und auf dem rechten nach Neukölln zurück, hin und her, so lange, bis entweder was passierte oder bis es ihm zu peinlich wurde. Auf diese Weise würde er bestimmt nicht übersehen werden. Wenn ihn jemand treffen wollte, ob er nun zu Fuß, per Boot oder per Auto kam: Einen Mann, der auf dieser kurzen Brücke immer hin- und herging, konnte man kaum übersehen.
    Das war völlig idiotisch und so unkriminalistisch wie nur möglich, aber ihm fiel einfach nichts Besseres ein. Er hatte es schon früher so gemacht, wenn er auf keinen Fall übersehen werden wollte, zum Beispiel, wenn er zum ersten Mal ein Mädchen traf. Als Jugendlicher hatte er ganz sicher gehen wollen und bei den vereinbarten Treffpunkten stets die exponierteste Stelle eingenommen, um nur ja aufzufallen. Auch bei Anette war das noch so gewesen. Die Weltzeituhr auf dem Alex, bei der sie sich zum ersten Mal getroffen hatten, war ein schwerer Fall für diese Methode: Sie war gleichzeitig rund und relativ groß, und er konnte sich nicht entscheiden, wohin er sich stellen sollte, um aus möglichst vielen Richtungen sichtbar zu sein. Also wanderte

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