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PolyPlay

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Titel: PolyPlay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Hammerschmitt
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Leuchtfläche zu sehen war, die anzeigte, dass eine Verbindung zum Internetz bestand. Wahrscheinlich war der Rechner die ganze Zeit mit dem Netz in Kontakt gewesen, und wenn das stimmte, konnte die Aufzeichnung von Kramers Gespräch mit dem interaktiven Geist wer weiß wohin unterwegs sein. Vielleicht direkt zu Lobedanz' Rechner. Dann erlosch die Leuchtfläche, und die FFS-Platte sprang mit einem leichten Klicken aus dem Laufwerk. Kramer nahm sie heraus und verließ zitternd das Büro seines toten Kollegen.
     
    Wilder und wilder, dachte Kramer, als er in der Oderberger Straße aus dem Auto stieg. Er hatte sich während der Fahrt einige Gedanken darüber gemacht, was Harrys Phantom, die NATA und Sebastian Verner miteinander zu tun haben mochten, und dann hatte er es aufgegeben. Er stocherte ohnehin nur im Nebel herum. Als Kriminalist mochte er das nicht, aber es war nun einmal so: Die anscheinend unzusammenhängenden Ereignisse schoben ihn vor sich her, wie ein Schachspieler die Figuren auf dem Brett hin und her schiebt. Wieder fühlte er sich an die Schillerparkfälle erinnert.
    Die Oderberger Straße war gar nicht weit von seinem Wohnort entfernt, aber sie gehörte zu einem vernachlässigten Teil von Berlin. Die Häuser waren nicht renoviert, braun und grau; an manchen waren noch Einschusslöcher aus dem Zweiten Weltkrieg zu sehen. Kramer staunte. Er hätte vermutet, dass hier wie fast überall sonst in Berlin die Spuren der Vergangenheit getilgt worden waren. Aber diese Straße wirkte, als habe jemand eine Glasglocke über sie gestülpt und einen Zettel daran befestigt: »DDR 1970-1987, bitte nicht berühren.« An dem Haus, vor dem er geparkt hatte, stand über der Eingangstür: Polstermöbe (das fehlende »L« war abgeblättert). Der Schriftzug war im Stil der zwanziger Jahre gehalten. Nicht zu fassen.
    Natürlich gab es Unterschiede zur alten DDR, wie Kramer bald bemerkte. Die Straßenbeleuchtung war besser. Das war zwar einerseits ungünstig, weil es den Zustand der Häuser auch nachts deutlich sichtbar machte, andererseits aber auch gut, weil man den Löchern im Gehweg besser ausweichen konnte. Im Unterschied zu Vor-Wende-Zeiten gab es hier jetzt jede Menge Kneipen, und in der milden Abendluft saßen Hunderte von jungen Leuten auf den Gehsteigen und Terrassen vor den Häusern, rauchten, tranken, palaverten und ließen es sich gut gehen. Schön, dachte Kramer, als er vor Nr. 17 stand. Hätte ich jetzt auch gern.
    Nur zwei Armeslängen von ihm entfernt saß eine junge Frau mit dem Rücken zu ihm. Kramer prüfte kurz ihre nackten Schultern. Er hörte sie reden. Angenehme Stimme. Ihr Begleiter sah kurz zu Kramer auf, als wolle er ihn gleich fragen, warum er da herumstand. Kramer fand, die Toreinfahrt zu Nr. 17 sah nicht anders aus als die anderen, an denen er schon vorbeigelaufen war.
    »He!«, rief ihm der Begleiter der jungen Frau halbherzig hinterher. Zu spät, Junge, dachte Kramer. Den Beschützer musst du jetzt woanders spielen.
    Die Toreinfahrt stank ein wenig nach Pisse. Dahinter lagen die ausgedehnten Hinterhöfe der Oderberger Straße.
    Selbst als Berliner fand Kramer es erstaunlich, wie tief diese Höfe gestaffelt waren. Ein miserabler, von vier hohen Wänden umgebener, mit Platten ausgelegter Platz folgte dem anderen, wie die quälend kleinen Pausenhöfe von Gefängnisabteilungen, deren Insassen einander nie sehen dürfen und denen nie bewusst werden darf, wie groß die Anstalt insgesamt ist. Schon im zweiten Hof war von der Straße nichts mehr zu hören. Hier konnte man immer noch ballspielend eine ganze Kindheit in Grau verträumen, bis die Welt zu einem überdimensionalen Lichtschacht geworden war, mit einem Fenster, aus dem die Mutter »Abendessen!« herunterrief. Kramer zählte fünf Höfe, bis er in einen kleinen Park trat.
    Er erinnerte sich. Bei dem Einsatz gegen die Oppositionellen waren die Höfe und der Park mit den Kollegen von der VP-Bereitschaft verstopft gewesen. Der Einsatzleiter hatte ihn und zwei andere Offiziersschüler an den Behelmten vorbei »zur vordersten Front« gelotst, dort wo die fünfzig verzweifelten und verängstigten Jugendlichen auf den Abtransport gewartet hatten. Auf dem Weg dorthin waren sie an einem aus Stahlstangen zusammengeschweißten Stier vorbeigekommen, und der Einsatzleiter hatte geschnaubt: »Ist schon so ein Nest hier. Das halten die für Kunst. Nix wie Ärger.« Ein paar Schritt weiter war Kramer die bizarre Einfassung eines Spielplatzes aufgefallen: ein

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