PolyPlay
womöglich noch Spuren von Kramers Selbstmord.
Pasulke hatte ihm vorgestern erzählt, dass Kramers Büro wegen Versetzungs- und Organisationsschwierigkeiten noch nicht wieder in Beschlag genommen worden war. Pasulke war seiner Aussage nach in den letzten Tagen sogar einmal selbst hier gewesen und hatte sich davon überzeugt, dass das Büro noch unbenutzt war.
Kramer schaltete die R-610 von Merz ein, und mit einem Summen, das ihm viel zu laut vorkam, erwachte sie zum Leben. Auch dieser Computer hatte natürlich eines der neuen Laufwerke: Merz wäre wahrscheinlich bis zum Polizeipräsidenten gegangen, wenn man ihm nicht sofort einen Prototypen zur Verfügung gestellt hätte. Kramer schob die FFS-Platte in den Laufwerksschlitz hinein, bis sie mit einem leisen Klicken einrastete. Er zog einen Stuhl heran und setzte sich. Die Vorderkante der Platte, die etwa einen Millimeter aus dem Computer herausragte, begann in mildem Orange zu glimmen, etwa wie ein Spannungsprüfer. Kramer fühlte sich ganz entfernt an das Licht aus dem Fundstück erinnert. Kein Wunder, dachte er. Kommt ja auch aus dem gleichen Stall. Bei der NATA kann man offenbar mit den neuesten Entwicklungen ein und aus gehen, wie es einem beliebt.
Er wollte gerade nachsehen, ob er das Laufwerk irgendwo in seinem Verzeichnisbaum finden konnte, da erschien auf seinem Bildschirm ein lächelndes Gesicht.
»Hallo, Rüdiger«, begrüßte ihn der Mann.
Kramer erschrak bis ins Mark. Die Art, wie der Kerl so plötzlich auf dem Bild aufgetaucht war, erinnerte ihn an die Todesbotschaft von Merz. Und er erkannte ihn: Er glich dem Phantombild des Unbekannten, den Harry der Penner seinerzeit gesehen haben wollte. Das markante, lang gezogene Gesicht, die schmale Nase, die eng beieinander stehenden Augen. Kein Zweifel, das war er.
»Schönes Wetter heute, nicht?«
Auch der affektierte Tonfall stimmte. So janz uff feiner Herr, hatte Harry damals gesagt. Passte genau. Täuschte er sich, oder versuchte diese Erscheinung da mit ihm ein Gespräch anzuknüpfen?
»Was …?«, fragte Kramer zögernd.
»Ja, ›was?‹«, sagte der Unbekannte amüsiert. »Das ist doch eigentlich immer die Hauptfrage. Nicht ›wer?‹ oder ›warum?‹, sondern zuerst einmal ›was?‹, nicht wahr?«
Kramer wusste nicht, was er tun sollte.
»Hat's dir die Sprache verschlagen? Na macht nichts. Ehrlich gestanden, ich wäre auch überrascht. Aber jetzt mal was anderes. Hast du eigentlich heute Abend schon was vor?«
»Wer … wer sind Sie?«
»Jetzt sind wir schon beim ›wer‹, Rüdiger. Ich möchte aber noch gern ein bisschen beim ›was‹ bleiben. Weil ich es spannend finde. Ganz außerordentlich spannend sogar. Und, denk mal an, Rüdiger, ich würde dir ein bisschen von diesem ›was‹ erzählen. Interessiert dich das nicht?«
»Doch«, sagte Kramer. Er krächzte es eher. Und hatte immer noch nicht die geringste Ahnung, was hier vorging.
»Na also. Und daher die Frage: Hast du heute Abend schon was vor?«
»Nein. Nicht direkt.«
»Das ist fein. Ich würde mich nämlich gerne mit dir treffen. In einem Hinterhof in der Oderberger Straße. Der Spielplatz, weißt du. Und die kleine Freilichtbühne, wo es früher diese oppositionellen Theatervorstellungen gab. Treffen wir uns da? In zwei Stunden? 20.30 Uhr?«
Oderberger Straße. Es war lange her, aber dieser Name und die anderen Dinge, die der Mann erwähnt hatte, brachten irgendetwas zum Klingen. Ja richtig! Als er noch Offiziersschüler gewesen war, hatte er als Teil der Ausbildung einen Einsatz gegen die oppositionellen Jugendgruppen mitgemacht, die in dem Theater in der Oderberger Straße ein »alternatives Festival« hatten abhalten wollen. Das war noch in der alten DDR gewesen, vor der Wende, und statt NKO hatte es geheißen: Schnappt sie euch. Ähnlich wie später in der Mainzer Straße. Die Genossen von der VP-Bereitschaft Basdorf hatten ohne Zögern hingelangt, so dass es zu ein paar blutigen Nasen gekommen war, und sie hatten einige der Jugendlichen auch an den Haaren zugeführt. Kramer erinnerte sich ungern daran.
»Ich komme«, sagte Kramer.
»So ist brav, Rüdiger. Komm aber bitte allein. Wir bleiben ganz unter uns, dann plaudert es sich gemütlicher. Bis dann! Ach, übrigens: Es ist die Toreinfahrt bei Haus Nr. 17.«
Das Gesicht verschwand, und die Fenster, die Kramer vor seinem Auftauchen auf dem Schirm gehabt hatte, wurden wieder sichtbar. Erst jetzt fiel ihm auf, dass rechts unten am Bildschirm eine kleine grüne
Weitere Kostenlose Bücher