PolyPlay
Warum das denn?«
»Das geht Sie nichts an«, sagte sie und schob ihn erstaunlich energisch zur Seite.
»Halt!«, sagte Kramer. »Warten Sie!«
»Das geht Sie überhaupt nichts an!« Ihr Tonfall wurde wieder hysterisch, während sie sich durch die Büsche kämpfte. »Wenn Sie mir etwas tun, sage ich es Ihrem Vorgesetzten!«
»Frau Abusch!«
»Lassen Sie mich!« Sie lief los.
Kramer, plötzlich von der Aussicht gelähmt, sie könne ihn wirklich bei Lobedanz anschwärzen, rief ihr machtlos hinterher: »Bleiben Sie stehen!«
»Lassen Sie mich!«
Weg war sie.
»Scheiße«, fluchte Kramer, wankte zu den Sitzrängen und setzte sich hin. »Scheiße, Scheiße, Scheiße!«
Er bekam das alles nicht mehr geregelt. Er musste jetzt mit jemandem reden. Er musste einfach.
Als Kramer in der Lumumbastraße ankam, war es Nacht. Eine schöne Ecke von Berlin. Die Rehberge und der Goethepark lagen unmittelbar in der Nähe, und von der Erich-Honecker-Kaserne, die auch nicht weit entfernt war, bekam man gar nichts mit. Kramer parkte den Wagen im Zwielicht unter den Alleebäumen am Goethepark, die den Straßenlaternen in einem auffrischenden Nachtwind die Zweige um die Blechmützen schlugen. Der hell erleuchtete Haupteingang der »Wissenschaftlichen Leitstelle Berlin« lag direkt gegenüber. Kramer rief noch einmal daheim an. Niemand regte sich: Anette saß noch an ihrem Schreibtisch. Sollte er sich ihr wirklich anvertrauen? Sie in diesen verflixten Fall hineinziehen? Aber sein Kopf drehte sich, wenn er nur an diesen Abend dachte. Er brauchte Entlastung, jemanden, der ihm die Hand auf die Schulter legte und sagte: »Nimm das doch nicht so wichtig« oder: »Spinn dich aus.« Wenn nicht Anette, wer dann?
Als er gerade aussteigen wollte, schwebte über der Afrikanischen Straße ein Werbeballon von enormer Größe heran. Das Ding flog tief und trug eine gigantische Leuchtschrift, die so hell strahlte, dass sie trotz der Straßenbeleuchtung Schatten warf: »Plaste und Elaste aus Schkopau – VEB Chemische Werke Buna«. Kramer konnte es kaum glauben. Das Schauspiel des sich im Nachtwind relativ rasch dahinbewegenden Ballons hatte gleichzeitig etwas Majestätisches und Lächerliches: Seine schiere Größe zwang zum Staunen. Aber dass für Produkte, die in der DDR jeder kannte, solch ein Aufwand getrieben wurde, noch dazu mitten in der Nacht, war grotesk. Das musste eines dieser Dinger aus der neuen Luftschiffwerft in Senftenberg sein. Der Ballon segelte davon, Kramer schüttelte den Kopf und machte die Wagentür auf.
In diesem Moment öffnete sich der Haupteingang. Ein Mann und eine Frau traten heraus und kamen dann Arm in Arm die Treppe zur Straße herunter. Die Frau hätte Kramer in jedem Licht erkannt, allein schon an ihrer Statur und ihrem Gang: Es war Anette. Wer der Mann war, wurde ihm erst klar, als das Paar sich am Fuß der Treppe umarmte und leidenschaftlich küsste. Akkermann. Das war Akkermann in Uniform, der seiner Frau dort drüben, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, einen leidenschaftlich-verliebten Zungenkuss gab. Kramer blinzelte, und er blinzelte noch einmal, aber das Bild ging nicht weg. Sobald er hinsah, waren sie wieder da: Akkermann und Anette in enger Umarmung. Eine lähmende Form von Elektrizität stieg an Kramers Armen und Beinen auf. Er fühlte sich, als würden ihm die inneren Organe von groben Fäusten zusammengepresst. Langsam, ganz langsam, schaffte er es, seinen linken Fuß wieder ins Wageninnere zu befördern und die Tür fast geräuschlos zu schließen. Er sank in seinem Sitz zusammen, bis er gerade noch aus dem Wagenfenster hinaussehen konnte. Sein Kopf wurde immer heißer. Seine Knie fingen an zu zittern, weil er so unbequem halb saß, halb lag. Ich töte sie, dachte er. Beide. Mit meiner Pistole.
Der Kuss dauerte lange, und Kramer konnte nicht wegsehen. Es war, als würde er mit einem glühenden Eisen gebrandmarkt und könne von Anblick und Gestank seines eigenen brutzelnden Fleischs nicht genug bekommen. Akkermann tastete an Anettes Hintern herum, und sie fand das offenbar angenehm. Als die beiden sich endlich trennten, hoffte er nur, dass sie ihn nicht entdeckten. Das Wageninnere war dunkel. Vielleicht übersahen sie ihn.
Sein Wunsch ging in Erfüllung. Die beiden waren noch so damit beschäftigt, einander Kusshände zuzuwerfen, dass sie ihrer Umgebung kaum Beachtung schenkten. Akkermann stieg in sein Auto und fuhr weg, Anette genauso. Sie fuhr nach Hause, so wusste Kramer, in der
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