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PolyPlay

PolyPlay

Titel: PolyPlay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Hammerschmitt
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kopfloser Adler in Sandstein gemeißelt, der auf dem Rücken lag, und andere Bruchstücke, die wie die zertrümmerten Kapitelle von großen Säulen oder massiven steinernen Brüstungen aussahen. »Ulkig, nich?«, hatte der Einsatzleiter gesagt. »Das sind original Bruchstücke vom Stadtschloss. Gesprengt, verstehen Sie?« Kramer hatte nicht verstanden. Stadtschloss? Kinderspielplatz? Und dann die »Freilichtbühne«. Nun ja, vielleicht eher ein Braschenviereck mit vier oder fünf in Backstein gemauerten Sitzrängen drumherum. Hinterhof-Amphitheater. Die Jugendlichen hatten auf dem Boden gesessen, entschlossen, sich wegtragen zu lassen – wie die Pershing-Blockierer im Westen. So war es dann auch gelaufen.
    Der Stahlstier, der Reichskanzlei-Adler, die Bühne: Alles war noch da. Kramer stand auf dem kleinen Platz, drehte sich einmal um seine eigene Achse, und hörte die Stimmen von damals: das Geschrei, die Beleidigungen, das Geschimpfe. Er hatte es gewusst: In diesem Tumult wurden Biographien umgeschrieben. Gefängnisstrafen wurden vorbereitet, Republikfluchten besiegelt, einige wenige Knochen und viele, viele Herzen gebrochen. Als junger Polizist hatte er sich das alles angesehen, die blutigen Nasen, die knüppelnden Kollegen, die Tritte zwischen die Beine, und ihm war davon schlecht geworden. Und dann hatte er es vergessen, um weiter Polizist bleiben zu können. Seit der Wende kamen solche Einsätze eigentlich nur noch bei Fußballspielen vor, und dort waren sie auch bitter nötig. Ach ja, und bei NKO-Konzerten.
    20.45 Uhr. Der Weiße, wie Kramer seinen Gastgeber wegen Penner-Harrys Beschreibung nannte, ließ sich Zeit. Von Minute zu Minute wurde es dunkler. Gebüsche und kleine Bäume verschmolzen mit der Mauer, die den Platz einfasste, zu einer dunkelrotbraunen Fläche. Über der Mauerkrone das letzte Licht dieses Berliner Sommerabends. Kleine, schwirrende Reflexe zogen durch dir Luft, auf seltsam zackigen Kursen, immer rundherum. Kramer dachte zunächst an Vögel, dann aber ging ihm auf: Das mussten Fledermäuse sein. Wie war das noch gleich? Diese Biester orientierten sich mit Sonar und konnten deswegen auch im Dunkeln jagen? Nicht schlecht, dachte er. Könnte ich auch gebrauchen. Manche der langsamen schwarzen Blitze flogen sehr nah an ihm vorbei, und er bildete sich ein, er könne ihre Schreie hören.
    »Das ist ein seltsamer Ort, nicht wahr?«
    Kramer fuhr herum. Der Weiße stand hinter ihm und lächelte ihn an. Er sah genauso aus, wie Harry ihn beschrieben hatte: ein ziemlich großer Mann mit langem, schmalem Gesicht und eng beieinander stehenden Augen. Er war ganz in Weiß gekleidet, »Dunkelweiß«, wie Harry es genannt hatte, und schon wie er dastand hatte etwas Blasiertes.
    »Voller Melancholie und … Eigensinn, wenn man so sagen darf. Wussten Sie, dass hier bis zum Ende der achtziger Jahre illegale Theateraufführungen stattfanden? Manchmal war sogar die Polizei da. Aber wir wollten uns heute Abend über andere Dinge unterhalten. Setzen wir uns doch.«
    Der Weiße zeigte auf die kümmerlichen Backsteintheaterränge, und Kramer beschloss mitzuspielen.
    Kaum hatten sie sich gesetzt, sagte der Mann: »Ich bin ein Bewunderer des Buddhismus. Kein Buddhist im Wortsinn, das ist mir zu anstrengend. Ein Bewunderer. Ab und zu lese ich in den Lehrreden des Buddha und freue mich darüber. Nehmen wir zum Beispiel die Lehrrede vom Prachtnetz, die Brahmajala-Sutta. Kennen Sie die?«
    »Nein«, sagte Kramer. Er fühlte sich hilflos.
    »Ah. Dann wird Sie interessieren, was der Buddha zu sagen hatte. Am Ende dieser Lehrrede heißt es: Wenn aber, ihr Mönche, der Mönch der sechs Sinnesgebiete Entstehen und Vergehen, ihre Lust und ihr Leid und das Entrinnen wirklichkeitsgemäß erkennt, so erkennt der, was höher als alle Erfahrung ist. Und alle diejenigen Büßer und Brahmanen, ihr Mönche, die sich mit dem Voranfang befassen, die sich mit der Zukunft befassen, die sich mit Voranfang und Zukunft befassen, die über Voranfang und Zukunft spekulieren, in Bezug auf Voranfang und Zukunft verschiedenartige hochtrabende Lehrsätze vortragen, alle die sind eben mit diesen zweiundsechzig Besonderheiten ins Netz hineingeraten. Wenn sie hochtauchen, tauchen sie hier als gebunden hoch; wenn sie hochtauchen, tauchen sie hier als gefangen, als ins Netz hineingeraten hoch. Gleich als wenn, ihr Mönche, ein geschickter Fischer oder Fischergehilfe mit einem feinmaschigen Netz einen Tümpel durchzöge, dem käme dann der Gedanke: Was

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