PolyPlay
mal nachfragen kann, ob Ihre Ermittlungen eigentlich so wichtig sind?«
»Gerne, Genosse Oltersdorf«, sagte Kramer. »Mein Name ist Akkermann. Ich komme vom K5 Friedrichshain.«
Der Dicke blinzelte. Dann lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück. Er war ein bisschen rot geworden.
»Ah«, sagte er. »Ah. Na dann nichts für ungut, Genosse Akkermann.«
Oltersdorf gab Kramer die Hand und verzog sich. Kramer freute sich diebisch. Manchmal war sogar die Stasi noch für etwas gut.
Erst am sechsten Tag seiner Exkursionen in die Spielhallen der Hauptstadt kam er auf die Idee, den Jugendclub Taube zu besuchen. Den Ort, an dem Michael ermordet worden war. Es verblüffte ihn, dass er nicht früher daran gedacht hatte, aber er fand es verzeihlich: ein simpler Akt der Verdrängung.
Die große Taube über dem Haupteingang des Jugendclubs war mit viel Liebe zum Detail aufgefrischt worden: Sie breitete ihre Schwingen schützend über den Türrahmen, der Ölzweig im Schnabel trug goldene Früchte, die Taube flog durch einen lieblich bewölkten Himmel, an dem auch vier oder fünf rote Sterne zu sehen waren. »30 Jahre Jugendclub Taube«. Im Inneren hatte sich wenig getan. Der Veranstaltungssaal war noch genauso verstaubt wie vor zwei Monaten, die alten Stühle aus Schkopau standen gestapelt in der Ecke. Der Vorhang der kleinen Bühne war immer noch so niederschmetternd schmutzbraun wie am Morgen des 3. April.
Im Hinterzimmer mit den Spielautomaten hatte man immerhin die Wände gestrichen. Blau und golden prangte die FDJ-Sonne an der Wand: Kramer vermutete, dass hier derselbe Künstler wie bei der Taube am Werk gewesen war. Unter das Gemälde hatte jemand geschrieben: »Solanaceae Tau«.
Hartnäckiger Fan, dachte Kramer. Es war nur ein gutes Dutzend Jugendliche anwesend. Die meisten von denen, die sich umgedreht hatten, als er hereingekommen war, widmeten sich schnell wieder ihrem Spiel. Nur einer sah ihn unverhohlen an. Er saß nahe beim Fenster, und im Gegenlicht erkannte Kramer ihn nicht gleich.
»Oberleutnant Kramer!«, sagte der Junge. »Wie schön, Sie zu sehen.«
»Na, Sebastian?«, entgegnete Kramer. »Schulische Leistungen wieder in Ordnung?«
»Alles bestens. Kleines Leistungstief, das nun völlig überwunden ist. Anstrengende Zeit. Ein wenig Ablenkung muss da schon mal sein.«
Er machte eine lässige Geste in Richtung der Spielautomaten, wie ein Gutsherr, der seinen Gästen den englischen Park zeigt. Dir würde ich gern mal so richtig in die Fresse hauen, dachte Kramer. Damit dir dein beschissenes Prinzengetue vergeht.
»Und selber?«, fragte Verner. »Immer noch an der Sache mit Michael dran?«
»Klaro«, sagte Kramer. »Bin im Dienst, mein Junge.« Er tätschelte dem jungen Lord die Backe. »Man sieht sich.«
Wenn Verner durch Kramers gönnerhafte Vertraulichkeit verunsichert war, dann ließ er sich das nicht anmerken. Mit seiner üblichen arroganten Selbstgewissheit sagte er: »Nicht so schnell, Herr Kramer. Bevor Sie gehen – ein kleines Geschenk für Sie.« Er griff in seine Jackentasche, zog ein graues, handtellergroßes Viereck hervor und überreichte es Kramer mit einem ironischen Schlenker.
Es schien sich um eine Versandtasche für Datenträger zu handeln, Kramer hatte so etwas schon mal bei Merz gesehen. Er überlegte, ob er Verner einfach stehen lassen sollte, aber seine Intuition riet ihm davon ab.
»Danke schön«, sagte er, »ich liebe diese kleinen Aufmerksamkeiten von Zivilisten.«
Verner lachte. »Gern geschehen. Tschüs.« Dann stand er auf und ging auf den Ausgang zu. An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Ach, und noch was. Grüße an Major Lobedanz.« Er winkte und war verschwunden.
Kopfschüttelnd steckte Kramer Verners »Geschenk« ein. Er fragte noch ein paar der Jungs an den Automaten nach Michael, war aber so wütend, dass er sich auf die Antworten kaum konzentrieren konnte.
Grüße an Major Lobedanz. »Lass mich in Ruhe oder es gibt Ärger«, übersetzte Kramer in Gedanken, als er das graue Viereck in seiner Hand wog. Die Versandtasche fühlte sich frisch und neu an. Einige aufgedruckte Piktogramme empfahlen, sie nicht zu knicken oder zu magnetisieren, unter »Lagerungsbedingungen« war zu lesen: Temperatur: -40 °C – + 50 °C, Luftfeuchtigkeit: 8 % – 90%. Auf der Rückseite war aufgedruckt: »Altstoff ist Rohstoff! Nach der Verwendung zur Altstoffsammlung!« Nachdem er die Versandtasche mit zitternden Fingern geöffnet hatte, tauchte eine weitere Bemerkung
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