PolyPlay
auf sich, dann auf Anette, »sind Götter. Ich bin Zeus. Das hier ist Athene. Meine Tochter.« Er streichelte mit dem Handrücken ihren Bauch, und sie schloss vor Behagen die Augen. »Gabriel ist ein Gast. Ein wichtiger Gast.«
Der Engel stand reglos da. Das Blut aus der Wunde am Hals hatte mittlerweile seine Beine erreicht. Kramer erinnerte sich daran, wo er den Tonfall schon einmal gehört hatte, den Zeus anschlug: Der Weiße hatte so ähnlich geklungen, als er ihm die buddhistische Rede gehalten hatte, auf den Backsteinstufen des illegalen Hinterhoftheaters. Worum war es damals gegangen. Um das Prachtnetz?
»Hast du mich gehört?«, sagte Zeus mit erhobener Stimme.
Kramer schreckte hoch. Der Göttervater sprach mit ihm, und er war unaufmerksam.
»Ich habe dir erklärt, wer wir sind. Aber wer bist du?«
Kramer glaubte zu schwitzen. Aber als er sich an die Stirn fasste, war sie trocken und kühl. »Ich bin Rüdiger Kramer. Ehemals Oberleutnant der Deutschen Volkspolizei.«
Das klang in dieser Umgebung nun wirklich extrem lächerlich. Aber niemand lachte. Die beiden Götter und der Engel starrten ihn an. Kramer spürte ein Stechen in seiner Hüfte. Als er an sich hinabsah, hatte sich sein linkes Bein von ihm gelöst und entfernte sich in kleinen, ruckartigen Bewegungen. Er konnte den sauberen Schnitt durch den Oberschenkel sehen: Muskeln, Blutgefäße und den weißen, glatt durchtrennten Knochen. Das Bein strebte von ihm weg, als fliehe es vor ihm. Aber seine Bewegungen waren unsicher. Einen halben Meter von Kramer entfernt fiel es um. Er hingegen hatte keine Gleichgewichtsprobleme. Er tastete nach seinem linken Bein: Kein Zweifel, es fehlte. Aber er stand ganz fest.
Kramer übergab sich. Aus seinem Mund kamen keine Speisereste, sondern lange rote Würmer, die in dicken Knäueln zu Boden fielen. Als er das sah, musste er sich noch heftiger übergeben, und das Ergebnis waren noch mehr Würmer. Die Wurmbrut ringelte und wand sich auf dem Boden wie ein Nest neugeborener Schlangen. Als einige der Würmer das abgetrennte Bein Kramers wahrnahmen, krochen sie darauf zu und machten sich darüber her. Schnell folgten ihnen die andern nach, und bald war das Bein übersät und durchzogen von Würmern, die sich daran fett fraßen. Es waren so viele, dass sich das Bein über den Boden zu bewegen, ja sich gegen die Wurminvasion zu wehren schien. Kramer, der nicht mehr erbrechen konnte, sagte keuchend: »Nein … nein.«
»Sieh mich an«, sagte Zeus, und Kramer musste gehorchen. »Komm her.«
Kramer konnte gehen. Er wusste nicht wie, aber er trat drei Schritte auf den Gott zu.
»Noch näher.«
Ein weiterer Schritt. Das Gesicht des Göttervaters leuchtete. Seine Augen waren von einem mineralischen Blau, wie Kramer es noch nie gesehen hatte.
»Richtig. Rüdiger Kramer. Wir hatten große Hoffnungen in dich gesetzt. Aber du hast versagt.«
»Er ist müde«, sagte jemand. Marx war unbemerkt neben ihn getreten. Er hielt sein aufgeschlagenes Buch immer noch in der Hand. »Er muss schlafen«, sagte der Philosoph.
»Das stimmt«, sagte Athene.
Zeus sah aus, als sei er noch nicht fertig, aber schließlich lehnte er sich in seinem Thron zurück und atmete aus. »Gut. Sei's drum.«
Kramer hätte beinahe widersprochen. Es stimmte, dass er müde war, ganz abgesehen davon, dass er unter Schock stand, weil ihm gerade ein Bein abhanden gekommen war. Aber er wollte ein paar Fragen stellen. »Ich …«, fing er an, aber Marx packte ihn am Arm.
»Nein«, sagte er. »Du musst dich ausruhen. Du ahnst die Wahrheit schon. Davon kann man müde werden. Komm mit mir.«
Marx führte ihn aus dem Naiskos hinaus. Kramer hörte Athene lachen. Wenn er an sich hinabsah, fehlte ihm ein Bein. Aber er konnte laufen, als sei das kein Problem.
Das Bett, eigentlich eher eine Liege, stand im Schatten der gigantischen Mauer, die das Adyton umgrenzte. Mit den dünnen, schmiedeeisernen Streben und der flachen Matratze sah es archaisch und elegant aus. Es schien ein wenig kurz zu sein, aber Kramer erinnerte sich daran, dass die Menschen in der Antike kleiner gewesen waren.
Er schaute in den blauen Himmel. Die Möwe stand immer noch dort oben, die schwarzen Spitzen ihrer Flügel wie Kommata zu einem nicht vorhandenen Satz. Anscheinend hatte sie sich die ganz Zeit über nicht bewegt.
»Herr Marx«, sagte er.
»Ja?«
»Verscheuchen Sie die Vögel, falls sie sich an mir zu schaffen machen sollten?«
»Selbstverständlich.«
»Ich danke Ihnen«, sagte
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