PolyPlay
grün. Intensiv gelbe Augen hatten diese Vögel, mit stecknadelkopfgroßen schwarzen Pupillen. Kramer sah alles ganz klar. »Todesvögel«, dachte er zusammenhanglos, »Todesvögel.« Einer sprang auf seinen linken Schuh zu und pickte daran herum, als wolle er das Leder fressen.
Kramer stand auf. Der Stuhl, auf dem er gesessen hatte, knisterte und zerfiel zu Staub.
Noch mehr Vögel flogen herbei. Kramer ließ erst jetzt die Arme sinken. Er sah sich um. Es konnte nur ein Traum, eine Halluzination oder eine Psychose sein. Aber seine Umgebung fühlte sich so furchtbar real an; realer als alles, was er zeitlebens mit seinen sechs Sinnen wahrgenommen hatte.
Allem Anschein nach befand er sich in einer antiken griechischen Tempelruine. Die Säulen waren mächtig und hoch und sie trugen kein Dach. Der Himmel war tiefblau, nur ganz weit oben standen ein paar kleine Schäfchenwolken. Ein leichter Wind fing sich in Kramers Haaren. Thymian und Rosmarin lagen in der Luft, ein herrlicher Tag. Das Meer konnte nicht weit entfernt sein. Man hörte es rauschen, wenn auch schwach. Und da, eine Möwe; die schwarzen Spitzen ihrer Flügel wie winzige Kommata zu einem fehlenden Satz.
Kramer fühlte sich wohl. Er fühlte sich entsetzlich. Es machte keinen Unterschied. War er gestorben? Oder starb er gerade? Es gab so Geschichten, dass Sterbende seltsame Dinge erlebten. Manche, die dann doch gerettet wurden, erzählten von Erscheinungen, Engeln und anderen mystischen Begebenheiten.
Das hier war nicht mystisch. Das hier war die Realität. Einer der Vögel landete auf seiner Schulter und begann die feinen Härchen aus der Haut seines Nackens zu zupfen. Kramer verscheuchte ihn. Mit einem lauten, ärgerlichen »Tschilp« flatterte der Störenfried davon. Als habe man ihm etwas genommen, was ihm rechtmäßig gehörte.
»Herr Kramer?«, sagte jemand hinter ihm.
Er drehte sich um und fühlte sich ganz ruhig dabei.
Als er den Mann erkannte, der ihn angesprochen hatte, wurde ihm noch um einiges leichter zumute, denn er wusste nun mit absoluter Sicherheit, dass er nicht starb, sondern träumte. Der Mann in dem altmodischen Bratenrock, mit dem Monokel vor der Brust und dem wuchernden grauen Bart konnte nur Karl Marx sein. Der Philosoph war viel kleiner, als Kramer gedacht hätte. Er sah nicht im Entferntesten so wuchtig und gemeißelt aus wie manche seiner Denkmäler. Er wirkte zerbrechlich. Wie ein alter Mann, der sich die Knochen dünn gedacht hat.
Seine Stimme aber war fest. »Wir kennen uns«, sagte Marx in einem leichten Trierer Singsang, der Kramer ganz entfernt an die Kölschen Töne erinnerte, die ihm noch von seinem Ausflug zur VEB Spielgeräte im Ohr waren. Er streckte die Hand aus, und Marx nahm sie, lächelnd.
Pasulke sollte jetzt hier sein, dachte Kramer. Ich schüttle Karl Marx die Hand! Die Haut fühlte sich angenehm an, trocken und kühl, wie die Haut alter Menschen eben.
»Kommen Sie«, sagte Marx. Laut tschilpten die Vögel.
Kramer folgte dem Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus durch den tief gestaffelten Säulenwald bis vor eine ungeheure Mauer, in der eine ebenso ungeheure Öffnung ausgespart war; eine Tür für Riesen, aber selbst Riesen hätten die Schwelle dieser Tür nicht ohne weiteres überschreiten können. Kramer schätzte die Höhe der Schwelle auf zwei, die der ganzen Tür auf zehn Meter, und den reich verzierten Türsturz dort oben überragte die Mauer noch einmal um ein gutes Stück. Das Gestein war glatt. Man konnte kaum die Fugen zwischen den exakt gemeißelten Quadern sehen.
Marx prüfte seine Taschenuhr.
»Ah ja, Zeit genug«, sagte er. »Genosse Kramer, Sie fragen sich vielleicht, was diese Mauer hier soll? Und die Tür darin? Das ist leicht beantwortet: Durch diese Tür wurden in der Antike die Sprüche des Tempelorakels verkündet. Sie ist übrigens vierzehn Meter hoch. Die gigantische Mauer, vor der wir hier stehen, umschließt das Adyton, das Allerheiligste des Tempels. Dort müssen wir hin.«
Er setzte sich wieder in Bewegung. Einige Meter rechts von der Riesentür war eine weitere, viel kleinere in das Gestein eingelassen, und Marx verschwand darin. Kramer musste seinen Kopf beugen. Krumm getretene Stufen führten hinab in einen dunklen Tunnel, der glücklicherweise nicht allzu lang war. Der Tunnel mündete in einen spärlich beleuchteten unterirdischen Raum, der auf Kramer wie eine Grabkammer wirkte; er roch muffig, nach Kirche. Selbst die Sonne Griechenlands hatte ihn in
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