Pommes rot-weiß
Die Erfinder der Altstadt hatten es mit dem Idyllischen, Lieblichen und altertümlich Gemütlichen zu gut gemeint und sich zu stark dem breiten Publikumsgeschmack angepasst. Jetzt konsumierte hier das breite Publikum so ausgiebig, dass gar nichts alt werden konnte. Als Einziger versuchte der Rhein alle zwei Jahre, etwas gegen den Kommerz zu unternehmen und sich das Viertel einzuverleiben, aber ihm erlaubte man längst nicht, was man den Touristen großzügig zugestand.
Ich wollte den Wagen irgendwo am Heumarkt abstellen und mich dann zu Fuß durchschlagen. Aber eine Baustelle, mit der ich nicht gerechnet hatte, zwang mich zur Kursänderung, und ehe ich’s mich versah, war ich auf der anderen Rheinseite. Einfach zurückfahren ging nicht, denn in dieser Richtung gab es einen Stau. Also fuhr ich weiter nördlich über die Deutzer Brücke und verhedderte mich schließlich in einem Labyrinth aus Straßen, die allesamt in ein einziges Parkhaus führten. Endlich gab ich mich geschlagen, stellte den Wagen irgendwo in einem stinkenden, aber kostenpflichtigen Kellergewölbe ab und machte mich auf den Weg.
»Dat is janz einfach«, erklärte mir ein dicker Mann zwei Straßenecken weiter, während er sein Hemd in die Hose steckte und die Zigarre in seinem Mundwinkel als Zeigestock benutzte. »Sie jehen hier jradeaus un dann die zweite links. Nä, Moment, die dritte is dat, jlaub ich. Also die links un dann kommen Se auf ‘en Platz. Da jehen Se schräch drüber un auf der anderen Seite sehen Se dann so ‘n Durchjang. Da durch, un dat isset schon.«
Ich nickte. »Also noch mal: Da drüben links und dann auf einen Platz…«
»Die dritte. Wennse die zweite jehen, dat ist janz falsch. Vor dem Platz jehen Se noch ‘ne Treppe runter, so drei oder vier Stufen. Un dann…«
»Am besten is«, mischte sich ein Zweiter ein, »wenn Se janz andersrum jehen. Hier zurück un dann direkt um de Ecke. Da kommen Se an einer Toreinfahrt vorbei. Können Se nit verfehlen. Da is ein jelber Abfalleimer neben.«
»Danke«, sagte ich und wollte los. Die Ortskenntnis der Einheimischen war auf der ganzen Welt berüchtigt und ihre Hilfsbereitschaft gefürchtet.
Der Dicke hielt mich fest. »Verjessen Se dat mit der Toreinfahrt. Dat is en Umweg. Meilenweit.«
»Umweg?«, entrüstete sich der andere. »Ich sach Ihnen was: Sie können natürlich auch so jehen. Aber dann sin Se locker ‘ne Viertelstunde unterwegs.«
»Hören Se mal, juter Mann«, meldete sich mein erster Informant höflich, »so können Se dat aber jetzt nich sagen. Wissen Se, was ich jlaube? Sie sin jarnit von hier.«
»Also noch mal, vielen Dank«, verabschiedete ich mich und wollte mich losmachen.
»Moment!«, hielt mich der Dicke energisch zurück. »Haben Se dat denn jetzt verstanden? Die dritte links und…«
»Wie soll der dat verstehen?«, konterte der andere. »Dat is doch der reinste Kuddelmuddel, so wie Sie dat dem erklären.«
»Kuddelmuddel?!«
Ich verdrückte mich und zog damit sofort die einmütige Missbilligung beider auf mich. Sie schimpften hinter mir her, dabei hatte ich keine der vorgeschlagenen Richtungen gewählt, um nicht Partei zu ergreifen. Eine Zeit lang irrte ich umher und versuchte gegen die anströmenden Stadtbummler meinen Weg zu behaupten. Fast zufällig stand ich schließlich direkt gegenüber dem Theater Die Weinstube.
Der Name stand auf einem vergilbten Plastikschild, das schief in einer Glasvitrine lehnte. Darunter, wie die Speisekarte eines Restaurants, der Spielplan, ein mit Schreibmaschine getipptes Blatt:
WEIHNACHTSVORSTELLUNG 21.12.98:
A. HITCHCOCKS DIE VÖGEL
WEGEN ÜBERWÄLTIGENDER NACHFRAGE
WIEDER AUF DEM SPIELPLAN:
DIE RÜCKKEHR DER REITENDEN LEICHEN
DEMNÄCHST IN DIESEM THEATER:
BASIC INSTINCT
EIN EROTICTHRILLER DER SUPERLATIVE
Falls die bombastischen Titel den Versuch darstellten, dem Haus etwas Hollywood-Glamour zu verpassen, was ihm zweifellos gut getan hätte, so war er misslungen. Blutrünstig, wie sie waren, bildeten die Titel einen komischen Kontrast zur urbürgerlichen Fassade des windschiefen Häuschens, das mit seinen Buntglasfenstern eher wie eine langweilige, verräucherte Gaststätte aussah.
Dieser Eindruck änderte sich auch drinnen nicht. Es gab einen Tresen, gelbe Funzeln aus Plastik, die Kerzen imitierten, und Holztische mit grünen Aschenbechern drauf.
»Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte ein Mädchen mit kurzem, rotem Haar und tropfenförmigem Ohrschmuck, die hinter dem Tresen Gläser
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