Pommes rot-weiß
vor.
»Tun Sie das, Kittel.«
»Es ist mein Job«, fügte ich düster hinzu, »Menschen wieder zu erkennen. Ich irre mich nicht so leicht.«
Ich stand auf und hielt den geschwollenen Zeigefinger gegen das Licht.
»Das sieht böse aus«, sagte Tilo mitfühlend. Bei Schmerz aller Art kannte er sich aus.
»Es gibt Schlimmeres«, gab ich zurück. »Also dann…«
»Was ist mit meinem Vater?«
»Werden Sie ihm etwas davon erzählen?«
»Wovon?«
Die Angst war in seinen Blick zurückgekehrt. Tilo umfasste mit einer hektischen Geste den Bühnenraum. »Von dem hier.«
Endlich dämmerte es bei mir. »Weiß er denn gar nichts davon, dass Sie hier spielen?«
»Wenn er das wüsste, würde er mich…« Er schluckte. »Er hätte dafür keinerlei Verständnis.«
Daher also rührte Tilo Martens’ Panik. Sein Geheimnis war nicht die schwarze Gestalt, die interessierte ihn überhaupt nicht, sondern das Theater. Vielleicht das Einzige in seinem Leben, das sein überheblicher Vater nicht mit seiner Allmacht zertrampelte, über das er nicht seine Abfälligkeit ausgoss.
»Keine Sorge«, lächelte ich. »Es gehört zu meinem Job, Geheimnisse zu bewahren.«
»Danke«, stieß er mit einer Erleichterung hervor, als hätte ich ihm Stillschweigen über einen Mord zugesichert.
»Übrigens habe ich Sie spielen sehen«, sagte ich.
»Ach ja…?« Ein verlegenes Grinsen verzerrte sein Gesicht, es war nicht sein Grinsen, sondern das seines Vaters, der sich über ihn lustig machte.
»Sie sind ganz anders auf der Bühne«, versicherte ich. »Wirklich überzeugend. Sie sollten auf jeden Fall damit weitermachen.«
Es war noch nicht besonders spät am Abend, als ich aus der Weinstube auf die Straße trat, aber ich wollte die Parkgebühren für den Wagen nicht so hoch steigen lassen, dass sie mich finanziell überforderten. Außerdem würde es einige Zeit brauchen, den Weg zurück zu finden, obwohl ich mich jetzt orientieren konnte, ohne von Einheimischen unter dem Vorwand der Wegbeschreibung in endlose Gespräche verwickelt zu werden.
Ich machte ein paar Schritte und atmete ausgiebig ein, um die feuchte Nachtluft zu genießen. Ausatmen konnte ich nicht mehr, denn daran hinderte mich jemand. Er umklammerte mich von hinten. Viel zu spät und nur für den Bruchteil einer Sekunde hatte ich seinen Schatten hinter mir bemerkt. Ein großer, dunkler Schatten. Tilos Kollege, die Spukgestalt.
Er hinderte mich daran, die Nachtluft wieder freizugeben. Ich wollte mich losmachen, aber der Riese hob mich hoch, dass meine Beine hilflos strampelten. Ich japste und er warf mich in die Ecke zwischen ein paar Mülleimer. Trotz des Lärms kam mir kein Mensch zur Hilfe.
Ich rappelte mich hoch und schnappte nach Luft, die jetzt nicht mehr frisch und feucht roch, sondern stickig und verschwitzt wie in einer Umkleidekabine. Mein Widersacher ließ mir keine Zeit aufzustehen, sondern packte mich an der Jacke und zog mich hoch. Er roch nach Arbeit, nach langer, anstrengender Probe. Nach Schweiß. Mir wurde übel.
»Wenn ich dir ‘n juten Rat jeben darf«, zischte der Mann, während er mein Ohr wie ein Mikro vor seinen Mund drehte, »dann nimm deine Schnüfflernase und schnüffel irjenzwo anders rum. Sons kann ich janz schön unjemütlich werden.« Sein fauliger Atem ließ mein Bewusstsein schwinden. »Wennze verstehs, wat ich mein.«
Bis zur Ohnmacht waren es höchstens noch zwei Sekunden, aber es war Zeit genug, um mir klarzumachen, dass mich noch niemals zuvor ein Rat so überzeugt hatte. Nicht weil der Bursche so ungemütlich geworden war, sondern weil ich genau wusste, dass ich sterben würde, wenn meine Nase auch nur noch ein Milligramm von dem einatmen musste, was er absonderte.
Dem Mann schien das nicht zu entgehen und offenbar war er nicht gekommen, um mich umzubringen. Also hievte er mich noch mal hoch, holte weit nach hinten aus und warf mich in den Müll zurück, wo ich befreit aufatmete. So und nicht anders musste es im Paradies duften.
12
Als ich aufwachte, duftete es anders, also wusste ich sofort, ich war nicht im Paradies.
Es roch stark nach Orange, und sobald ich die Augen aufschlug, bemerkte ich eine ziemlich dicke Orange, die leuchtete und von einer niedrigen, schiefen Decke herunterhing und ein orangefarbenes Licht verbreitete.
Die Orange war eine Papierlampe mit chinesischen Schriftzeichen darauf. Auf der Fensterbank schmorte eine Räucherkerze.
Ein kleiner Mann näherte sich. Er hatte langes, weißes Haar und trug ein
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