Pompeji
verlieren würde. Sie hatte ein paar primitive Instinkte – Habgier, Wollust, Grausamkeit –, mit denen er spielen konnte wie auf den Saiten einer Harfe, weil er zur Menge gehörte und die Menge zu ihm. Aber schrille Angst übertönte alle anderen Noten. Dennoch versuchte er es. Er trat in die Straßenmitte und streckte die Arme weit aus. »Wartet!«, rief er. »Cuspius, Brittius – ihr alle –, fasst euch bei den Händen! Gebt ihnen ein Beispiel!«
Die Feiglinge sahen ihn nicht einmal an. Holconius ergriff als Erster die Flucht und rammte seine knochigen Ellbogen in die Masse der Leiber, um sich seinen Weg hügelabwärts zu bahnen. Brittius folgte ihm und dann Cuspius. Popidius machte kehrt und flüchtete in sein Haus. Vor ihm hatte sich die Menge in eine feste Masse verwandelt, weil immer mehr Leute aus den Nebenstraßen herbeiströmten. Sie wandten dem Berg den Rücken und die Gesichter der See zu, und ihr einziger Impuls war, zu flüchten. Ampliatus erhaschte einen letzten Blick auf das weiße Gesicht seiner Frau auf der Schwelle, dann hatte ihn die rasende Menge erfasst, und er wurde herumgewirbelt wie eines dieser drehbaren Holzmodelle, die in den Gladiatorenschulen zum Üben benutzt wurden. Er wurde zur Seite geschleudert und wäre unter ihren Füßen verschwunden, wenn Massavo seinen Sturz nicht gesehen und ihn aufgehoben und in Sicherheit gebracht hätte. Er sah, wie eine Mutter ihr Kind fallen ließ, und hörte, wie es schrie, als es niedergetrampelt wurde, sah, wie eine ältliche Matrone mit dem Kopf gegen die Mauer gegenüber prallte, dann ohnmächtig zusammensackte und die Menge rücksichtslos über sie hinwegstürmte. Manche Leute schrien. Andere schluchzten. Aber die meisten waren stumm, weil sie ihre Kräfte für die Schlacht am unteren Ende des Hügels aufsparen wollten, wo sie sich ihren Weg durch das Stabiae-Tor würden erkämpfen müssen.
Als sich Ampliatus gegen den Türrahmen lehnte, spürte er etwas Nasses auf seinem Gesicht, und als er seine Nase mit dem Handrücken abwischte, war sie blutverschmiert. Er schaute über die Köpfe der Menge hinweg auf den Berg, aber der war bereits verschwunden. Eine riesige schwarze Wolkenmauer bewegte sich auf die Stadt zu, so dunkel wie bei einem Gewitter. Aber es war kein Gewitter, erkannte er, und es war auch keine Wolke; es war eine donnernde Kaskade aus Gestein. Rasch schaute er in die andere Richtung. Unten am Hafen lag sein karminrotes und goldenes Boot vor Anker. Sie könnten in See stechen, versuchen, die Villa in Misenum zu erreichen, dort Zuflucht suchen. Aber die Menge der Leiber auf der zum Tor führenden Straße begann sich bereits den Hügel hinauf zu stauen. Es war ausgeschlossen, dass er den Hafen erreichte. Und selbst wenn ihm das gelang, würde auch die Besatzung versuchen, sich selbst zu retten.
Andere hatten ihm die Entscheidung abgenommen. Und so sei es denn, dachte er. Genau so war es vor siebzehn Jahren gewesen. Die Feiglinge waren geflüchtet, er war geblieben, und dann waren sie alle wieder gekrochen gekommen! Er spürte, wie seine alte Tatkraft und Zuversicht zurückkehrten. Wieder würde der einstige Sklave seinen Herren eine Lektion in römischer Tapferkeit erteilen. Die Sibylle irrte sich nie. Er warf einen letzten, verächtlichen Blick auf den panischen Fluss, der an ihm vorbeiströmte, trat ins Haus und befahl Massavo, die Tür zu schließen. Zu schließen und zu verriegeln. Sie würden bleiben, und sie würden es überstehen.
In Misenum sah es aus wie Rauch. Plinius' Schwester Julia, die mit ihrem Sonnenschirm über die Terrasse wanderte und Bougainvillea-Blüten für den Esstisch pflückte, hielt es für eines der Buschfeuer, die im ganzen Sommer überall am Golf aufgelodert waren. Aber die Höhe der Wolke, ihre Masse und die Schnelligkeit ihres Aufsteigens glichen nichts, das sie je gesehen hatte. Sie entschied, dass sie gut daran täte, ihren Bruder zu wecken, der über seinen Büchern unten im Garten eingeschlafen war.
Selbst im dichten Schatten der Bäume war sein Gesicht so rot wie die Blüten in ihrem Korb. Es widerstrebte ihr, ihn zu stören, denn dann würde er sich natürlich sofort aufregen. Er erinnerte sie daran, wie ihr Vater in den Tagen vor seinem Tod gewesen war – dieselbe Korpulenz, dieselbe Kurzatmigkeit, dieselbe uncharakteristische Reizbarkeit. Aber wenn sie ihn schlafen ließ, würde er bestimmt wütend darüber sein, dass ihm dieser eigentümliche Rauch entgangen war, also strich sie ihm
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