Pompeji
übers Haar und flüsterte: »Wach auf, Bruder. Da ist etwas, das du bestimmt sehen möchtest.«
Er schlug sofort die Augen auf. »Das Wasser – läuft es wieder?«
»Nein. Nicht das Wasser. Es sieht aus wie ein großes Feuer am Golf, und es kommt vom Vesuv.«
»Vom Vesuv?« Er blinzelte sie an, dann rief er einem Sklaven zu: »Meine Schuhe! Schnell!«
»Überanstrenge dich nicht, Bruder …«
Er wartete nicht einmal auf seine Schuhe, sondern machte sich, zum zweiten Mal an diesem Tag, barfuss auf den Weg über das trockene Gras zur Terrasse. Als er sie erreicht hatte, säumten bereits die meisten der Haussklaven die Balustrade; sie schauten ostwärts über den Golf auf etwas, das aussah wie eine riesige, über die Küste hinweg wachsende und weit ausladende Pinie. Ein dicker brauner Stamm mit schwarzen und weißen Flecken erhob sich meilenweit in die Luft, und von der Krone zweigte ein Büschel von gefiederten Ästen ab. Diese breiten Abzweigungen schienen sich an den Unterkanten aufzulösen und ließen einen feinen, sandfarbenen Nebel auf die Erde herabregnen.
Es war einer der Grundsätze des Befehlshabers, den er immer wieder äußerte, dass er, je länger er die Natur beobachtete, umso weniger dazu neigte, Aussagen über sie für unmöglich zu halten. Aber das hier war eindeutig unmöglich. Nichts, was er je gelesen hatte – und er hatte alles gelesen –, passte auch nur entfernt zu diesem Anblick. Gewährte ihm die Natur etwa den Vorzug, Augenzeuge von etwas zu werden, was noch nie zuvor aufgezeichnet worden war? Diese langen Jahre des Sammelns von Fakten, die Anrufung, mit der er die Historia naturalis beendet hatte: »Sei mir gegrüßt, Natur, du Mutter aller Dinge, und nimm es gütig auf, dass unter den Bürgern Roms ich allein es bin, der dich in allen deinen Werken verherrlicht hat« – wurde er jetzt endlich dafür belohnt? Wenn er nicht so dick gewesen wäre, wäre er niedergekniet. »Danke«, flüsterte er. »Danke.«
Er musste sofort mit der Arbeit beginnen. Pinie … hoher Stamm – gefiederte Äste … Er musste das alles für die Nachwelt festhalten, solange die Bilder in seinem Kopf noch frisch waren. Er rief Alexion zu, Griffel und Wachstafel zur Hand zu nehmen, und bat seine Schwester, Gaius zu holen.
»Er ist drinnen und arbeitet an der Übersetzung, die du ihm aufgegeben hast.«
»Bitte ihn trotzdem, sofort hierher zu kommen. Das wird er sich nicht entgehen lassen wollen.« Es kann kein Rauch sein, dachte er. Dazu war es zu dicht. Außerdem war an seiner Basis kein Feuer zu entdecken. Aber wenn kein Rauch, was dann? »Seid still, verdammt noch mal!« Er bedeutete den Sklaven, mit ihrem Geschwätz aufzuhören. Als er angestrengt lauschte, konnte er gerade eben ein dumpfes, andauerndes Grollen hören, das über den Golf drang. Wenn es sich in einer Entfernung von fünfzehn Meilen so anhörte – wie musste es dann in der Nähe sein?
Er winkte Alcman herbei. »Schicke einen Läufer hinunter ins Ausbildungslager. Er soll den Kommandanten des Flaggschiffes ausfindig machen und ihm sagen, dass er sofort eine Liburne für mich startklar machen soll.«
»Bruder – nein!«
»Julia!« Plinius hob die Hand. »Ich weiß, du meinst es gut, aber spar dir deine Worte. Dieses Phänomen, was immer es sein mag, ist ein Zeichen der Natur. Das ist meine Sache.«
Corelia hatte die Läden aufgestoßen und stand auf ihrem Balkon. Rechts von ihr, über dem flachen Dach des Atriums, näherte sich eine riesige Wolke, so schwarz wie Tusche. Sie sah aus wie ein schwerer Vorhang, der vor den Himmel gezogen wird. Donner ließ die Luft beben. Von der Straße drangen Schreie herauf. Im Hof rannten Sklaven ziellos hin und her. Sie erinnerten sie an Haselmäuse in einem Glas, bevor sie zum Verzehr herausgefischt wurden. Sie fühlte sich seltsam losgelöst von dem Geschehen – eine Zuschauerin in einer Loge im Hintergrund des Theaters, die sich eine Vorstellung anschaut. Jeden Augenblick würde ein Gott aus den Kulissen herabgesenkt werden und sie in Sicherheit bringen. Sie rief hinunter. »Was geht da vor?«, aber niemand schenkte ihr auch nur die geringste Aufmerksamkeit. Noch einmal versuchte sie es, dann wurde ihr klar, dass man sie vergessen hatte.
Das Dröhnen der Wolke wurde lauter. Sie lief zur Tür und versuchte, sie zu öffnen, aber das Schloss war zu kräftig, als dass sie es aufbrechen konnte. Sie eilte zurück auf den Balkon, der für einen Sprung jedoch zu hoch oben war. Unten, zu ihrer
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