Pompeji
Kommandant. Herculaneum! Lass direkt auf die Küste zusteuern – auf die Villa Calpurnia!«
»Ja, Befehlshaber! Rudergänger – Kurs Ost!«
Das Segel knallte, und das Schiff krängte über. Eine Gischtwoge durchnässte Attilius – ein grandioses Gefühl. Er wischte sich den Staub aus dem Gesicht und fuhr mit den Fingern durch sein schmutziges Haar. Unter Deck wurde die Trommel in einem wahnwitzigen Tempo geschlagen, und die Ruder waren in den heranbrandenden Wellen und der Gischt kaum noch zu erkennen. Plinius' Sekretär musste die Arme über seine Papiere legen, damit sie nicht davongeweht wurden. Attilius schaute zu dem Befehlshaber hinauf. Plinius beugte sich auf seinem Stuhl nach vorn. Seine Wangen glänzten von der Gischt, die Augen funkelten vor Aufregung, und er lächelte breit; alle Spuren der früheren Erschöpfung waren verschwunden. Er war wieder ein Reitersmann auf seinem Pferd, der mit dem Spieß in der Hand über die Ebenen Germaniens prescht, um sich auf die Barbaren zu stürzen.
»Wir werden Rectina und die Bibliothek retten und in Sicherheit bringen, und dann schließen wir uns Antius und dem Rest der Flotte an und nehmen so viele Menschen wie möglich auf. Wie klingt das in deinen Ohren, Kommandant?«
»Wie der Befehlshaber wünscht«, erklärte Torquatus steif. »Darf ich fragen, welche Stunde deine Uhr anzeigt?«
»Den Beginn der zehnten Stunde«, sagte Alexion.
Torquatus hob die Brauen. »Dann bleiben uns also nur noch drei Stunden Tageslicht.«
Er ließ die Bemerkung in der Luft hängen, aber Plinius tat sie mit einer Handbewegung ab. »Schau dir die Fahrt an, die wir machen, Torquatus! Bald sind wir an der Küste.«
»Ja, und der Wind, der uns vorantreibt, wird es uns schwer genug machen, von dort wieder fortzukommen.«
»Seeleute!«, spottete Plinius im Tosen der Wellen. »Hast du das gehört, Aquarius? Wenn es ums Wetter geht, sind sie schlimmer als die Bauern. Sie stöhnen, wenn kein Wind weht, und wenn einer da ist, beschweren sie sich noch lauter.«
»Befehlshaber!« Torquatus salutierte. »Bitte entschuldige mich!« Er wendete sich mit zusammengebissenen Zähnen ab und machte sich schwankend auf den Weg zum Bug.
»Beobachtungen in der zehnten Stunde«, sagte Plinius. »Bist du bereit, Alexion?« Er legte die Fingerspitzen zusammen und runzelte die Stirn. Es war eine gewaltige Herausforderung, ein Phänomen zu beschreiben, für das bisher noch keine Sprache erfunden war. Nach einer Weile schienen Metaphern wie Säulen, Baumstämme, Fontänen und dergleichen mehr zu verschleiern als zu erhellen, weil sie außerstande waren, die unterschwelligen Kräfte dessen einzufangen, was er beobachtete. Er hätte einen Dichter mitbringen sollen – der wäre von größerem Nutzen gewesen als der übervorsichtige Kommandant. »›Aus größerer Nähe‹«, begann er, »›macht die Manifestation den Eindruck einer schweren, gigantischen Regenwolke, die sich zunehmend schwarz färbt. Wie bei einem noch mehrere Meilen entfernten Gewitter kann man einzelne Regenschwaden ausmachen, die wie Rauch über die dunkle Oberfläche driften. Und dennoch handelt es sich, dem Wasserbaumeister Marcus Attilius zufolge, nicht um Regen, der herabstürzt, sondern um Gestein!‹« Er rief zum Achterdeck. »Komm herauf, Aquarius. Beschreibe uns noch einmal, was du gesehen hast. Für die Aufzeichnungen.«
Attilius stieg die kurze Leiter zum Oberdeck hinauf. Die Art, auf die Plinius sich eingerichtet hatte – mit seinem Sklaven, seinem thronähnlichen Stuhl, seiner Wasseruhr – hatte, vor dem Hintergrund der Gewalten, in die sie hineinsegelten, etwas Absurdes. Obwohl er den Wind im Rücken hatte, konnte Attilius bereits das Donnern des Berges hören, und die hoch aufragende Gesteinskaskade war jetzt viel näher und ihr Schiff so zerbrechlich wie ein Blatt am unteren Ende eines Wasserfalls. Er versuchte, seinen Bericht zu wiederholen, und dann zuckte ein Blitz durch die wirbelnde Wolkenmasse – nicht weiß, sondern ein greller, gezackter Streifen Rot. Er hing in der Luft wie eine Ader voller Blut, und Alexion begann, mit der Zunge zu schnalzen, womit die Abergläubischen Blitzschläge verehren.
»Füge das der Liste der Phänomene hinzu«, befahl Plinius. »›Blitze: ein unheildrohendes Omen.‹«
Torquatus rief. »Wir kommen zu nahe heran!«
Über die Schulter des Befehlshabers sah Attilius die Quadriremen der Flotte von Misenum, die, noch im Sonnenlicht, den Hafen in V-Formation wie ein Schwarm
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