Pompeji
jetzt schon mehr als drei Fuß –, und Attilius schien es unmöglich, dass er es schaffen würde, doch dann hatte Corax die Kante erreicht, warf seinen Sack aufs Schiff und sprang dann hinterher; zwei der Seesoldaten beugten sich vor, ergriffen seine Arme und zogen ihn an Bord. Er landete aufrecht, dicht am Heck, funkelte Attilius böse an und reckte ihm den Mittelfinger entgegen. Der Wasserbaumeister drehte ihm den Rücken zu.
Die Minerva schwenkte mit dem Bug voran aus dem Hafen heraus, und an jeder Seite ihres schmalen Rumpfes kamen zwei Dutzend Ruder zum Vorschein. Unter Deck wurde eine Trommel geschlagen, und die Blätter senkten sich. Sie erklang abermals, und die Ruder tauchten ins Wasser, geführt von zwei Männern an jedem Riemen. Das Schiff glitt vorwärts – anfangs kaum merklich, aber in dem Maße schneller werdend, wie sich das Tempo der Trommelschläge erhöhte. Den Blick voraus, zeigte der Lotse, der oberhalb des Rammsporns stand, nach rechts. Torquatus gab einen Befehl, der Steuermann schwang das schwere Blatt, das als Steuerruder diente, herum und manövrierte das Schiff zwischen zwei vor Anker liegenden Triremen hindurch. Zum ersten Mal seit vier Tagen spürte Attilius eine leichte Brise auf seinem Gesicht.
»Du hast Publikum, Aquarius!«, rief Torquatus und deutete auf die Anhöhe oberhalb des Hafens. Attilius erkannte die lange weiße Terrasse der von Myrtenhainen umgebenen Villa des Befehlshabers und, an die Balustrade gelehnt, die korpulente Gestalt von Plinius selbst. Er fragte sich, was dem alten Mann durch den Kopf ging. Er hob den Arm. Einen Augenblick später tat Plinius dasselbe. Dann glitt die Minerva zwischen den beiden großen Kampfschiffen, der Concordia und der Neptun, hindurch, und als er noch einmal hinschaute, war die Terrasse leer.
In der Ferne, hinter dem Vesuv, ging die Sonne auf.
Plinius beobachtete, wie die Liburne schneller wurde, als sie das offene Wasser erreichte. Weiße Gischt spritzte vor dem grauen Hintergrund von den Rudern auf und beschwor längst vergessene Erinnerungen an den bleiernen Rhein bei Tagesanbruch herauf – das musste bei Vetera gewesen sein, vor dreißig Jahren – und an die Fähre der Fünften Legion »Die Lerchen«, die seine Reiter ans andere Ufer beförderte. Das waren Zeiten gewesen! Was würde er nicht dafür geben, noch einmal im Frühlicht an Bord gehen zu können oder, noch besser, die Flotte im Kampf zu befehligen, etwas, was er in seinen zwei Jahren als ihr Befehlshaber nie getan hatte. Aber schon die Anstrengung, seine Bibliothek zu verlassen, auf die Terrasse hinauszugehen, um das Auslaufen der Minerva zu beobachten – von seinem Stuhl aufzustehen und ein paar kurze Schritte zu tun –, hatte ihm den Atem genommen, und als er den Arm hob, um den Gruß des Aquarius zu erwidern, hatte er das Gefühl gehabt, ein Gewicht stemmen zu müssen.
»Die Natur hat dem Menschen kein größeres Geschenk gemacht als die Kürze seines Lebens. Die Sinne stumpfen ab, die Glieder erlahmen, Augen, Ohren und sogar die Zähne und die Verdauungsorgane sterben, bevor wir es tun, und dennoch gilt diese Periode als Abschnitt des Lebens.«
Tapfere Worte. Leicht zu schreiben, wenn man noch jung war und der Tod irgendwo hinter einem fernen Hügel lauerte; weniger leicht, wenn man sechsundfünfzig war und der Feind ungetarnt auf offenem Feld vorrückte.
Er lehnte seinen fetten Bauch gegen die Balustrade und hoffte, dass keinem seiner Sekretäre seine Schwäche aufgefallen war; dann stieß er sich ab und schlurfte wieder ins Haus.
Für junge Männer wie Attilius hatte er schon immer eine Schwäche gehabt. Natürlich nicht auf die schmutzige griechische Art – für derartigen Unsinn hatte er nie die Zeit gehabt, obwohl er im Heer genug davon gesehen hatte –, sondern vielmehr in spiritueller Hinsicht, als Verkörperung römischer Tatkraft. Senatoren mochten von Imperien träumen, Soldaten mochten sie erobern; aber es waren die Baumeister, die Männer, die die Straßen planten und die Aquädukte anlegten, die sie buchstäblich bauten und Rom seine globale Reichweite verliehen. Er nahm sich vor, den Aquarius, wenn er zurückkehrte, zum Essen einzuladen, um herauszufinden, was mit der Augusta passiert war. Dann würden sie gemeinsam einige der Texte in seiner Bibliothek zurate ziehen, und er würde ihn mit ein paar Geheimnissen der Natur vertraut machen, die immer wieder für Überraschungen gut war. Diese zeitweiligen, harmonischen Beben – wie entstanden
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