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Pompeji

Pompeji

Titel: Pompeji Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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Ampliata!«
    Keine Antwort. Dann ein Flüstern im Dunkeln, so leise, dass er es fast überhört hätte. »Weg.«
    Die Stimme einer Frau. Sie kam von irgendwo links von ihm. Er trat vom Tor zurück und spähte in die Schatten. Außer einem Bündel Lumpen an der Mauer konnte er nichts entdecken. Er trat näher heran und sah, dass sich das Lumpenbündel ein wenig bewegte. Ein magerer Fuß ragte wie ein Knochen daraus hervor. Es war die Mutter des toten Sklaven. Er ließ sich auf ein Knie nieder und berührte vorsichtig das grobe Gewebe ihres Gewandes. Sie zitterte, dann stöhnte sie und murmelte etwas. Er zog seine Hand zurück. An seinen Fingern klebte Blut.
    »Kannst du aufstehen?«
    »Weg«, sagte sie noch einmal.
    Er hob sie behutsam an, bis sie saß, an die Mauer gelehnt. Ihr Kopf sackte nach vorn, und er sah, dass ihr blutverklebtes Haar einen feuchten Fleck auf dem Stein hinterlassen hatte. Sie war ausgepeitscht und heftig geschlagen worden, und dann hatte man sie zum Sterben aus dem Haus geworfen.
    N. P. N. L. A. Numerius Popidius Numerii libertus Ampliatus. Freigelassen von der Familie der Popidii. Es war ein Faktum des Lebens, dass es keinen grausameren Herrn gab als einen ehemaligen Sklaven.
    Er drückte seine Finger sanft gegen ihren Hals, um sich zu vergewissern, dass sie noch lebte. Dann schob er einen Arm unter die Beugen ihrer Knie, und mit dem anderen umfasste er ihre Schultern. Das Aufstehen bereitete ihm keinerlei Mühe. Sie war nichts als Lumpen und Knochen. Irgendwo, in einer der Straßen in Hafennähe, verkündete der Nachtwächter den fünften Teil der Dunkelheit: Media noctis inclinatio – Mitternacht.
    Der Wasserbaumeister richtete sich auf und machte sich auf den Weg bergab, während der Tag des Mars in den Tag des Merkur überging.

 
    MERKUR
     
    23. August
    Der Tag vor dem Ausbruch
     
    Diluculum
     
    [06.00 Uhr]
     
    »Irgendwann vor 79 n. Chr. hatte sich unter dem Vulkan eine Magmakammer gebildet. Wann das geschah, wissen wir nicht, aber die Kammer hatte Volumen von mindestens 3,6 Kubikkilometern, befand sich etwa drei Kilometer unter der Oberfläche und war kompositionell geschichtet – gasblasenreiches alkalisches Magma (55 Prozent SiO 2 und fast 10 Prozent K 2 O) überlagerte etwas dichteres, stärker mafisches Magma.«
     
    Peter Francis, Volcanoes: A Planetary Perspective
     
    Auf dem großen steinernen Leuchtturm, der hinter dem Kamm des Vorgebirges verborgen war, löschten die Sklaven zum Zeichen des Tagesanbruchs die Feuer. Diese Stelle galt als heiliger Ort. Vergil zufolge wurde hier der Troer Misenos, der Herold des Aeneas, vom Meeresgott Triton getötet und mit seinen Rudern und seiner Trompete begraben.
    Attilius beobachtete, wie die rote Glut hinter dem mit Bäumen bestandenen Vorgebirge erlosch, während im Hafen die Umrisse der Kampfschiffe vor dem perlgrauen Himmel Gestalt annahmen.
    Er wandte sich ab und ging den Kai entlang zu der Stelle, an der seine Leute warteten. Jetzt endlich konnte er ihre Gesichter erkennen – Musa, Becco, Corvinus, Polites; inzwischen waren sie ihm so vertraut wie Familienangehörige. Noch keine Spur von Corax.
    »Neun Bordelle!«, sagte Musa gerade. »Glaubt mir, wenn ihr mit jemandem ins Bett wollt, ist Pompeji der richtige Ort. Sogar Becco kann seiner Hand eine Weile Ruhe gönnen. He, Aquarius!«, rief er, als Attilius näher kam. »Sag Becco hier, dass er dort so viele Weiber haben kann, wie er will!«
    Der Kai stank nach Kot und Fischabfällen. Unter ihnen, zwischen den Pfeilern des Piers, schwappten eine verfaulte Melone und der weiße, aufgedunsene Kadaver einer Ratte im Wasser. Ein Thema für Poeten! Plötzlich sehnte sich Attilius nach einem dieser kalten, nördlichen Gewässer, von denen er gehört hatte – dem Atlantik vielleicht oder dem Mare Germanicum, wo die Gezeiten täglich Sand und Felsen sauber spülten; einem Ort, der gesünder war als dieser lauwarme römische Teich.
    Er sagte: »Wenn wir die Augusta in Ordnung gebracht haben, kann Becco meinetwegen jede Frau in ganz Italien vögeln.«
    »Hast du das gehört, Becco? Dein Schwanz wird bald so lang sein wie deine Nase …«
    Das Schiff, das Plinius ihm versprochen hatte, war vor ihnen vertäut: die Minerva, benannt nach der Göttin der Weisheit; in ihren Bug war eine Eule, das Symbol der Gottheit, eingeschnitzt. Eine Liburne. Kleiner als die großen Triremen. Für Schnelligkeit gebaut. Ihr hoher Achtersteven ragte weit vor und krümmte sich dann über dem Unterdeck wie der

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