Pompeji
sie nicht ansehen, dachte er. Das gebot der Anstand. Aber er konnte den Blick nicht von ihr abwenden. »Was tust du hier?«
»Was ich hier tue?« Sie betrachtete ihn, als wäre er ein Schwachkopf, dann beugte sie sich vor. »Wo sollte ich sonst sein? Dieses Haus gehört meinem Vater.«
Anfangs war ihm nicht ganz klar, was sie gesagt hatte. »Aber man sagte mir, dass Popidius hier wohnt …«
»Das tut er.«
Er war immer noch verwirrt. »Und …?«
»Wir werden heiraten.« Sie sagte es fast tonlos und zuckte die Achseln, und in dieser Geste lag etwas Schreckliches, eine vollständige Hoffnungslosigkeit, und plötzlich wurde ihm alles klar – der Grund für Ampliatus' unangemeldetes Erscheinen, Popidius' Unterwürfigkeit, die Art, wie die anderen seinem Beispiel gefolgt waren. Irgendwie war es Ampliatus gelungen, Popidius das Dach über dem Kopf wegzukaufen, und jetzt wollte er das Maß seines Besitzertums voll machen, indem er seine Tochter mit seinem früheren Herrn verheiratete. Der Gedanke, dass dieser alternde Geck mit seinem gezupften und vollständig enthaarten Körper mit Corelia ein Bett teilen sollte, erfüllte Attilius mit unvermutetem Zorn, obwohl er sich sagte, dass ihn das nichts anging.
»Aber ein Mann in Popidius' Alter ist doch bestimmt schon verheiratet.«
»Er war es. Er wurde gezwungen, sich scheiden zu lassen.«
»Und was hält Popidius von einem solchen Arrangement?«
»Er empfindet es natürlich als Schande, so tief unter seiner Würde heiraten zu müssen – genau wie du offenbar.«
»Keineswegs, Corelia«, sagte er schnell. Er sah, dass ihr Tränen in den Augen standen. »Ganz im Gegenteil. Meiner Meinung nach bist du hundert Popidii wert. Sogar tausend.«
»Ich hasse ihn«, sagte sie, aber er wusste nicht, ob sie Popidius meinte oder ihren Vater.
Aus dem Gang kamen das Geräusch rascher Fußtritte und Ampliatus' Ruf: »Aquarius!«
Sie schauderte. »Ich bitte dich, geh. Du warst ein guter Mann, als du gestern versucht hast, mir zu helfen. Aber lass nicht zu, dass er dich einfängt, wie er uns alle eingefangen hat.«
Attilius sagte steif: »Ich bin ein frei geborener römischer Bürger, Mitarbeiter des Curator Aquarum, im Dienste des Kaisers und mit dem amtlichen Auftrag, den kaiserlichen Aquädukt zu reparieren – kein Sklave, den er seinen Muränen vorwerfen kann. Oder, was das betrifft, eine alte Frau, die halb tot geschlagen wurde.«
Jetzt war sie es, die bestürzt war. Sie schlug die Hände vor den Mund. »Atia?«
»Atia, ja – ist das ihr Name? Gestern Abend habe ich sie auf der Straße gefunden und in meine Unterkunft gebracht. Man hatte sie bewusstlos geprügelt und wie einen alten Hund zum Sterben vor die Tür gesetzt.«
»Dieses Ungeheuer!« Corelia trat, die Hände immer noch auf dem Mund, einen Schritt zurück und sank ins Wasser.
»Du nutzt meine Gutmütigkeit aus, Aquarius!«, sagte Ampliatus. Er kam durch das Tablinum auf ihn zu. »Ich habe dir nur gesagt, du solltest auf mich warten.« Er warf einen Blick auf Corelia – »Du solltest es besser wissen, nach dem, was ich dir gestern gesagt habe!« –, dann rief er über das Becken hinweg – »Celsia!« –, und die unansehnliche Frau, die Attilius schon früher bemerkt hatte, sprang von ihrem Stuhl auf. »Hol deine Tochter aus dem Becken! Es gehört sich nicht, dass sie ihre Titten in aller Öffentlichkeit sehen lässt!« Er wandte sich wieder an Attilius. »Sieh sie dir an – wie ein Haufen fetter Hennen auf ihren Nestern!« Er flatterte mit den Armen und stieß eine Reihe von Lauten aus – gluuuuuck, gluckgluckgluck –, und die Frauen hoben angewidert die Fächer. »Aber sie fliegen nicht. O nein. Eines habe ich über unsere römischen Aristokraten gelernt – sie tun alles für eine kostenlose Mahlzeit. Und ihre Frauen erst recht.« Er rief: »Ich bin in einer Stunde wieder da! Tischt nicht ohne mich auf!« Und mit einer Geste, die Attilius bedeutete, dass er ihm folgen sollte, machte der Herr des Hauses der Popidii auf dem Absatz kehrt und strebte auf die Tür zu.
Als sie das Atrium durchquerten, warf Attilius einen Blick zurück zu dem Becken, in dem Corelia noch immer tief im Wasser stand, als glaubte sie, durch vollständiges Eintauchen alles abspülen zu können, was um sie herum vorging.
Hora sexta
[12.00 Uhr]
»Wenn Magma aus der Tiefe aufsteigt, kommt es zu einem starken Druckabfall. So beträgt der Druck beispielsweise in zehn Meter Tiefe 300 Megapascal (MPa) oder das 3 00fache des
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