Poor Economics
unmissverständlich zu verstehen gibt, dass sie unerwünscht sind, es sei denn sie hätten ganz außergewöhnliche Begabungen aufzuweisen, und wo man eigentlich nur von ihnen erwartet, schweigend zu leiden, bis sie von selbst aufgeben.
So kommt es zu einer enormen Vergeudung von Talenten. Wahrscheinlich sind die meisten Menschen, die zwischen Grundschule und College aussteigen oder die nie eine Schule besucht haben, Opfer irgendeiner Art von Fehlbeurteilung: Eltern, die zu früh aufgaben, Lehrer, die sich nie bemüht haben, ihnen etwas beizubringen, oder der Mangel an Selbstvertrauen bei den Schülern selbst.
Die Geschichten von großen Wissenschaftlern, wie Albert Einstein oder dem indischen Mathematikgenie Ramanujam, die beide im normalen Bildungssystem versagten, sind wohlbekannt. Doch die Geschichte der Firma Raman Boards zeigt, dass sich diese Erfahrung nicht unbedingt auf einige wenige außergewöhnliche Geister beschränkt. Ein tamilischer Ingenieur namens V. Raman gründete Raman Boards Ende der siebziger Jahre in Mysore. Die Firma stellte technische Papiere her, zum Beispiel Isolierpapiere für Transformatoren. Eines Tages traf V. Raman am Tor vor der Fabrik einen jungen Mann, der ihn nach einem Job fragte. Sein Name war Rangaswami, und er stammte, wie er sagte,
aus einer sehr armen Familie. Er hatte eine gewisse technische Ausbildung, konnte aber nur eine Prüfungsurkunde und keinen Collegeabschluss vorweisen. Raman war beeindruckt von der Hartnäckigkeit, mit der der Bewerber versicherte, er werde gute Arbeit leisten, und ließ ihn einen schnellen Intelligenztest machen, den er mit Bravour absolvierte. Raman nahm den jungen Mann unter seine Fittiche. Anfangs arbeitete Rangaswami mit Raman zusammen, wenn es galt, technische Probleme zu lösen, doch er wurde rasch selbstständig und fand immer eine kreative Lösung. Irgendwann wurde Ramans Firma vom international agierenden schwedischen Technologiekonzern ABB gekauft, heute gehört sie zu den rentabelsten der vielen Unternehmen unter dem Dach von ABB weltweit – Schweden miteingerechnet. Rangaswami, der Mann ohne abgeschlossenes Ingenieursstudium, hat es zum technischen Leiter gebracht. Sein Kollege Krishnachari ist eine weitere Entdeckung von Raman: Der ehemalige Schreiner mit geringer Schulbildung stieg zum Manager in der Komponentenabteilung auf.
Ramans Sohn Aroon, der die Firma leitete, bis sie verkauft wurde, betreibt heute – zusammen mit ein paar ehemaligen Beschäftigten von Raman – eine kleine Forschungs- und Entwicklungseinheit. Den harten Kern seines Forschungsteams bilden vier Leute, von denen kein Einziger ausgebildeter Ingenieur ist und zwei nie die Highschool abgeschlossen haben. Er sagt, sie seien brillant, das einzige Problem sei gewesen, dass sie sich anfangs nicht getraut hätten, den Mund aufzumachen, so dass es niemand wusste. Man habe sie nur entdeckt, weil die Firma eben sehr klein sei und ihr Schwerpunkt im Bereich Forschung und Entwicklung liege. Aber selbst dann habe es eine Menge Geduld gebraucht, um ihre Fähigkeiten aufzudecken, und sie müssten auch jetzt noch ständig ermutigt werden.
Dieses Beispiel lässt sich nicht ohne Weiteres nachahmen. Leider gibt es keinen unfehlbaren Weg zur Entdeckung von Talenten, es sei denn, man will eine Menge Zeit investieren, um das nachzuholen, was das Bildungssystem hätte leisten sollen: den Menschen
hinreichend Gelegenheit zu geben zu zeigen, was sie können. Aber Raman Boards ist nicht die einzige Firma, die glaubt, es gebe noch eine Menge unentdeckter Talente. Infosys, einer von Indiens IT-Riesen, hatte Testzentren eingerichtet, wo jeder hingehen und sich testen lassen konnte, auch wenn er kaum formale Qualifikation besaß; die Tests zielten auf Intelligenz und analytische Fähigkeiten ab, nicht auf Schulbuchwissen. Wer gut abschnitt, wurde in ein Schulungsprogramm aufgenommen, und wer das schaffte, bekam einen Job. Dieser alternative Weg war eine Quelle der Hoffnung für all jene, die durch die gähnenden Löcher im Bildungssystem gefallen waren. Als Infosys die Testzentren in der globalen Rezession schloss, beherrschte das Thema die Schlagzeilen in Indien.
Eine Kombination aus unrealistischen Zielen, ungerechtfertigten pessimistischen Erwartungen und falschen Anreizen für Lehrer trägt dazu bei, dass die Bildungssysteme in Entwicklungsländern ihre beiden wichtigsten Aufgaben nicht erfüllen: alle mit einer ordentlichen Bildungsgrundlage zu versehen und Talente zu entdecken.
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