PopCo
ausgepackt habe, schleppt mein Großvater eine große Teekiste
ins Zimmer, und meine Großmutter erklärt mir, was es damit auf sich hat.
«Das sind die Sachen deiner Mutter», sagt sie. «Bücher und Tagebücher. Vielleicht bist du ja noch zu jung dafür – aber sie
sagte, du sollst das alles bekommen, wenn du elf wirst. Und da ist es nun.»
Mein Großvater stellt die Kiste mitten im Zimmer ab und betrachtet sie mit leisem Keuchen. Ich habe keine Ahnung, was ich
wohl für ein Gesicht mache. Meine Mutter? Mannomann!
«Tja …», sagt mein Großvater, und ich glaube, dieses «Tja …» bedeutet, dass ich jetzt gleich in die Kiste schauen soll, während meine Großeltern beide zusehen. Aber dann wechseln sie
nur einen leicht sorgenvollen Blick und lassen mich allein.
Großer Gott. Ich sitze da, starre die Kiste an und weiß gar nicht recht, was ich machen soll. Ich hatte ja keine Ahnung, dass
meine Mutter mir etwas von sich hinterlassen hat. Warum hat mir das denn keiner gesagt? Als ich noch bei meinem Vater wohnte,
hätte ich alles darum gegeben, wenigstens ein Haar von ihr zu haben. Hätte ich damals etwas von ihr gefunden – einen einzelnen
Ohrring, ein schmales Armband, das kleine, abgerissene Stückchen eines alten Einkaufszettels –, ich hätte es sorgfältiger gehütet als sonst etwas in meinem Leben, sogarsorgfältiger als mein Medaillon. Aber da war nichts. Kaum eine Woche nach ihrem Tod war jede noch so kleine Spur von ihr verschwunden,
als wäre meine Mutter eine alte Gewohnheit gewesen, die mein Vater aufgegeben hatte. Als ich in unsere Wohnung zurückkam (ich
wohnte damals eine Zeitlang im alten Haus meiner Großeltern in der Stadt), war alles fort, was an sie erinnern konnte. Absolut
alles. Keine BHs mehr, keine Bücher, keine angekauten alten Bleistifte, kein dunkles Brot, keine Postkarten mit Balletttänzerinnen,
keine Metalldosen mit Pfefferminzbonbons, keine Topfpflanzen, kein Kassettenrecorder und auch keine Kassetten, keine Notizbücher,
keine Apfelkitsche, kein Lippenstift, keine Geige. Nichts. Er schien auch noch zu glauben, das würde mir gar nicht auffallen.
Und jetzt das. Eine ganze Kiste mit Sachen, die sie berührt hat. Bücher, die sie tatsächlich gelesen hat. Und Tagebücher?
Nicht auszudenken. Mit großen runden Augen nähere ich mich der Kiste. Sie ist oben offen. Mein Gott! Da sind ja gar nicht
nur Bücher drin. Ich sehe einen alten, abgenutzten Teddybären, dessen Kopf zwischen ein paar Romanen hervorschaut. Und eine
Kassette, die, wie ich später feststelle, vom Radio aufgenommene Violinkonzerte enthält. Ich verbringe meinen ganzen Geburtstagsmorgen
damit, meine Schätze langsam und vorsichtig nach oben zu bringen, in kleinen, leicht zu transportierenden Stapeln. Dann nehme
ich die leere Kiste mit hinauf und räume die Bücher wieder hinein. Den Teddy setze ich auf mein Kopfkissen. Ich lege die Kassette
in meinen neuen Kassettenrecorder. Die Bücher habe ich mir noch gar nicht angeschaut.
Eigentlich weiß ich gar nichts über meine Mutter. Als sie starb, konnte ich mit niemandem über sie reden. Alle waren viel
zu erschüttert, um sich mit meinen Fragen zu befassen, deshalb habe ich gelernt, keine Fragen mehr zu stellen. Vielleicht
dachten sie auch, ich wäre noch zu klein, um das zubegreifen. Umso erstaunter bin ich jetzt, als meine Großeltern plötzlich anbieten, mir alles über sie zu erzählen, was ich
wissen will.
«Alles, Alice», sagt meine Großmutter beim Mittagessen mit sanfter Stimme. «Ganz egal, was.»
«Mochte sie Mathe?» Das ist die einzige Frage, die mir einfällt.
Sie müssen beide lachen. «Oh nein», sagt meine Großmutter. «Nicht einmal im Zusammenhang mit ihrer Musik. Das hat sie wirklich
überhaupt nicht interessiert.»
Mein Großvater sieht ein bisschen traurig aus, deshalb frage ich lieber nicht weiter. Nach dem Mittagessen zieht er sich mit
den Voynich-Berechnungen zurück, und meine Großmutter bindet sich einen Seidenschal um und geht zu Traceys Oma hinüber, um
das Essen für meine Geburtstagsfete vorzubereiten.
Ich verbringe den Nachmittag auf dem Bett und blättere in Romanen und Musikbüchern. Es ist auch ein Tagebuch dabei, aber um
mir das anzuschauen fehlt mir noch der Mut. Und als ich es gegen vier endlich wage, lese ich nicht darin. Ich sitze einfach
nur da, berühre die Schrift auf den Seiten und wünsche mir, dass alles anders wäre. Tränen erlaube ich mir nicht.
Mir
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