PopCo
sehe ich, dass es plötzlich die leeren
Seiten des Holzbausteins bebildert. Ichweiß nicht, wie das möglich ist, doch als ich einige Zeit später blinzelnd die Augen öffne, ist der Vorgang abgeschlossen,
das Häuschen ist verschwunden, und ich bin wieder allein im Wald. Wie meist nach einem erschütternden oder gefahrvollen Erlebnis
fasse ich nach meinem Medaillon und spüre, dass es sich irgendwie verändert hat. Entsetzt ziehe ich die Kette hervor und entdecke,
dass statt des Medaillons mit seiner Zahlenreihe nun ein kleiner Holzklotz daran hängt, dessen sechs Seiten alle Informationen
aus dem kleinen Haus enthalten. Und obwohl ich die Zahl aus dem Medaillon längst auswendig weiß und eigentlich gar nichts
verloren habe, schreie ich doch:
Nein!
, so laut, dass meine Stimme durch den Wald hallt und die Vögel aus den Bäumen aufsteigen wie Staub aus einem alten Sofa.
Als ich aufwache, ist es mitten in der Nacht. Ich habe viele Stunden geschlafen. Mit schwerem Kopf und rauem Hals denke ich
darüber nach, aufzustehen, bringe es dann aber doch nicht fertig. Stattdessen bleibe ich einfach hier in meinem Bett in Zimmer
23 liegen und tue mir leid. Ich frage mich, ob morgen früh wohl jemand kommen wird oder ob ich, wie es sich in letzter Zeit
eingebürgert hat, einfach allein krank sein muss, ohne dass mir jemand hilft und mich tröstet. Meist interessiert sich nicht
einmal Atari dafür, dass ich krank bin. In Paul Erdös’ Universum sind Katzen Herren, keine Diener.
Jetzt mach dich mal nicht lächerlich, Alice
. Das bringt ja auch nichts. Sich lächerlich zu machen hat nur Sinn, wenn jemand zuschaut. Mit schmerzenden Gliedern stehe
ich auf und hole mir ein Glas Leitungswasser. Dann nehme ich ein Buch aus dem Regal und krieche zurück ins Bett. Kalt ist
es hier drinnen. Vielleicht ist das aber auch nur das Fieber. Ich sollte wirklich etwas dagegen nehmen.
Was habe ich denn überhaupt dabei?
Arsenicum, Lycopodium, Nux vomica
und
Gelsemium
. Hm. Keine allzu große Auswahl,wenn man bedenkt, dass es mehrere zehntausend homöopathische Arzneien gibt. Aber mir ist kalt, und ich habe immer noch diesen
Drang, alles aufzuräumen. Mache ich mir Sorgen um die Zukunft? Nein. Glaube ich, dass ich an dieser Krankheit sterben kann?
Ja, so absurd das auch klingen mag. Das denke ich jedes Mal, wenn ich eine Erkältung habe. Ordnungswahn spricht für Arsenicum
und Nux, das Kältegefühl ebenfalls. Allerdings fühle ich mich nicht weiter zornig oder gereizt (Nux), und die Todesangst spricht
eindeutig für Arsenicum. Ich bin zwar nicht unruhig, wie das für Arsenicum der Fall sein müsste, nehme aber trotzdem eine
Dosis davon. Dann schlafe ich wieder ein, ohne das Buch, das ich mir ausgesucht habe, auch nur aufzuschlagen.
***
Als die großen Ferien anfangen, habe ich so viele Zahlen faktorisiert, wie ich schaffen konnte, ohne völlig durchzudrehen.
Ich bitte um zwei Wochen Pause. Mein Großvater erklärt, ich hätte ohnehin schon genug getan, und stellt mich bis auf weiteres
von dem Projekt frei. Meine Großmutter ist sehr einverstanden damit, dass er mich aus dieser großen Verantwortung entlässt
und ich einen «ganz normalen Sommer» genießen kann, so wie andere Kinder auch. Erst bin ich begeistert, die Arbeit endlich
los zu sein, doch je weiter die Ferien fortschreiten, desto stärker wird das nagende Gefühl, etwas nicht abgeschlossen zu
haben. Das gefällt mir gar nicht. Es ist, als würde man am Tag einer Klassenarbeit in der Schule fehlen: Man muss die Arbeit
zwar nicht schreiben, aber man vermisst das gute Gefühl, wenn alles vorbei ist.
An meinem Geburtstag überreichen meine Großeltern mir mehrere schön verpackte Geschenke: einen neuen Füller, den ich benutzen
werde, wenn die Schule wieder anfängt (imnächsten Schuljahr komme ich auf die weiterführende Schule und bin schon ganz nervös und aufgeregt deswegen), ein Vogelkundebuch
der Royal Society for the Protection of Birds, meine eigenen Stumps fürs Cricket, eine David-Gower-Tasse, ein Radio mit Kassettendeck
und eine kleine silberne Digitaluhr. So viele tolle Geschenke habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht bekommen! Vielleicht
ist es ja, weil ich jetzt ein Primzahl-Alter erreicht habe. Mein Großvater hat mir schon letztes Jahr erklärt, dass mein Geburtsdatum
aus lauter Primzahlen besteht, aber damals war ich ja erst zehn: 2 ⅹ 5. Jetzt ist alles an mir primstens! Nachdem ich alle Geschenke
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