PopCo
stehen und sich unterhalten und meine Großmutter sichtlich zufrieden das symmetrisch angeordnete
Geburtstagsbuffet betrachtet (rechtwinklige Marmeladenbrötchen, Käsekugeln, so rund und perfekt wie Riemanns Nullen, Götterspeise
in Form von Ellipsen), ziehen wir alle unsere Schuhe aus und schleichen durch die gespenstischen Gänge, bis wir bei den sieben
magischen Stufen sind, und danach schlittern wir eine gute halbe Stunde lang auf Strümpfen über die bohnerwachsglänzende Bühne.
Mein Großvater schließt meinen neuen Kassettenrecorder an und wählt eine Kassette aus Rachels Sammlung aus. Die ersten fünf,
sechs Lieder sind aktuelle Pop-Hits, die wir aus den wöchentlichen Chart-Shows im Radio kennen. Ich denke mir mit meinen Gästen
ein Spiel aus, bei dem wir uns alle am Rand der Bühne aufstellen, warten, bis das Lied seinen Höhepunkt erreicht, und dann
alle gleichzeitig runterspringen. Anscheinend kommt die Idee dazu aus einer Fernsehserie namens
Fame
, die ich natürlich nicht kenne. Sobald wir von der Bühne gesprungen sind, rennen wir umgehend hintenrum zurück und vergessen
dabei fast die Gespenster, um beim Höhepunkt des nächsten Liedes wieder von der Bühne springen zu können. Sogar die Jungs
machen mit! Ist meine Fete womöglich die allerbeste überhaupt?
Rachel, die für die Sommerferien aus ihrem Internat zurück ist, ist mit Abstand mein aufregendster Gast. Als Außenseiterin,
die als Einzige nicht auf meiner Schule ist (wo ich ja in Zukunft auch nicht mehr sein werde, genauso wenig wie bei den Wölflingen,
was mir aber noch nicht richtig klargeworden ist), sollte sie nach allen ungeschriebenen Kindergesetzen eigentlich ausgeschlossen
werden: Es dürfte niemand mit ihr reden und keiner neben ihr stehen wollen. Doch seit sie auf dem Internat ist, verhält Rachel
sich irgendwie ganz anders. Sie geht, als würde sie schweben, und manchmal benutzt siesogar Wimperntusche. Sie sieht aus wie das hübsche Geistermädchen aus irgendeinem Film. Als die ersten langsamen Lieder kommen,
kann sie sich aussuchen, mit welchem Jungen sie tanzen will. Und als sie dann mit Robert, dem tollsten Jungen in meiner Klasse
(einen guten Geschmack hat Rachel nämlich auch noch), eng tanzt, müssen alle anderen das natürlich auch machen. Ich weiß nicht
so genau, wie ich es finde, einem Jungen so nahe zu kommen, aber dann ist mein Engtanzpartner zufällig der einzige Junge in
der Klasse, den ich wirklich mag. Er heißt Alex und ist gut in Mathe. Und Russe ist er auch noch!
«Hast du eigentlich keine Eltern?», fragt er mich, während wir uns auf der Stelle wiegen, und sein Akzent ist so rund und
weich wie ein Doughnut.
Ich habe den Kopf an seine Schulter gelegt. «Nein», flüstere ich. «Ich habe keine Eltern.»
«Ich auch nicht», sagt er. «Ich habe auch keine Eltern mehr.»
Später gibt mir Alex einen Kuss auf die Wange. Rachel küsst Robert natürlich auf den Mund.
Als ich an diesem Abend einschlafe, habe ich den Teddy meiner Mutter im Arm und bin richtig glücklich.
***
Am Sonntag wache ich gegen zehn auf, weil es laut an meine Tür klopft. Draußen steht Ben mit einem Tablett in der Hand.
«Frühstück», verkündet er und folgt mir ins Zimmer.
Ich sinke wieder ins Bett, und er stellt das Tablett auf dem kleinen Tisch ab. Dann macht er sich so emsig im Zimmer zu schaffen
wie eine Haushaltshilfe. Er zieht die Vorhänge auf, öffnet das Fenster, greift sogar hinter mich, um mein Kissen aufzuschütteln.
Dann stellt er mir das Tablett auf den Schoß.Ich bin noch gar nicht richtig wach und beobachte ihn mit verschlafenem Blick. Und obwohl ich mich frage, warum er das alles
macht, bin ich ihm ausgesprochen dankbar. So dankbar, dass mir die Tränen in die Augen treten.
Nicht heulen, Alice. Bloß nicht heulen.
«Danke», sage ich.
«Du darfst Pfleger Ben zu mir sagen», erwidert er grinsend. «Tut mir übrigens leid, dass ich gestern so schlecht drauf war.
Ich will natürlich immer noch alle deine Krankheiten haben.»
War er gestern schlecht drauf? Das ist mir vor lauter Kranksein gar nicht aufgefallen.
Ich schaue auf das Tablett. Eine Kanne mit heißem Wasser, verschiedene Teebeutel, ein Becher, zwei Kännchen mit Milch, eine
Schüssel, zwei kleine Packungen Müsli, ein Teller mit zwei Scheiben Vollkorntoast, ein kleinerer Teller mit zwei Stückchen
Butter, ein kleines Glas Marmite und verschiedene Marmeladen.
«Ich wusste nicht, ob du Fleisch isst oder
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