PopCo
Ich schwimme auch gar nicht auf dieser spießigen
Alternativmedizinwelle … Ich weiß einfach nur, dass sie helfen.»
«Schon gut», sage ich lächelnd. «Ich kenne die Bachblütentherapie.»
Wie sollte ich sie auch nicht kennen? Eine der frühesten Theorien meines Großvaters über das Voynich-Manuskript lautete, dass
es sich um eine Art Handbuch für einen Vorläufer der Bachblütentherapie handeln müsse, und mir fiel die Aufgabe zu, alle achtunddreißig
Bachblüten in der Stadtbibliothek für ihn nachzuschlagen. Sie haben mich allerdings nie auf die gleiche Weise fasziniert wie
die Homöopathie, die mir anspruchsvoller erscheint und dazu noch etwas ebenso Mathematisches wie Poetisches an sich hat. Nur
in der Homöopathie findet man schließlich Mittel speziell für Menschen, die sich einbilden, aus Glas zu sein, unter dem Wahn
leiden, ständig Grünzeug verkaufen zu müssen, oder eine besondere Neigung zur (wahlweise auch Abneigung gegen) Mathematik
haben. Ein homöopathisches Mittel für ein Krankheitssymptom zu finden ist mit der Bearbeitung einer mathematischen Funktion
vergleichbar. Wenn man weiß, wie es geht, braucht man nur alle Daten einzugeben, schon hat man ein brauchbares Ergebnis. Bei
einer homöopathischen Behandlung schreibt man alle Symptome des Kranken auf, sucht die wichtigsten heraus (vor allem die auffälligsten
Gemütssymptome) und schlägt sie dann alle im großen Repertorium nach, einer Art Handbuch für Krankheitssymptome und die entsprechenden
Heilmittel. Das Repertorium listet die Symptome unter «Rubriken» auf, und jede Rubrik enthält eine Liste der Mittel, die das
beschriebene Symptom kurieren können. Nun muss man versuchen, das (oder die) Mittel zu finden, die allen ausgewählten Rubriken
gemeinsam sind. Anschließend gleicht man das Ergebnismit einer
Materia Medica
ab, einer Auflistung sämtlicher homöopathischer Arzneien und ihrer Wirkweisen (also quasi der Umkehrung des Repertoriums),
und wählt schließlich das Mittel aus, das dem Patienten am besten entspricht.
Ein paar Beispiele für Rubrikentitel aus dem Kapitel
«Gemüt und Geist»
meines Repertoriums lauten: «
Unruhe, geistige Erschöpfung durch»
, «
Vergnügungen, Abneigung gegen»
oder auch «
Übel, Angst vor»
oder «
Lärm, Neigung zum Erzeugen von
». Durch die seltsam verdrehten Formulierungen und die altertümliche Ausdrucksweise, die allen Repertorien gemeinsam ist,
erinnert die Suche nach der richtigen Arznei manchmal an das Entschlüsseln eines Codes. Schon die Wahl der richtigen Rubrik
setzt eine gewisse poetische Phantasie voraus.
Wahn, Prinz, ein solcher zu sein
(anders gesagt: der Patient glaubt, ein Prinz zu sein) muss nicht unbedingt bedeuten, dass der Betreffende sich wirklich konkret
für einen Prinzen hält. Man muss von dem Gedanken abstrahieren und zu begreifen versuchen, wie man sein könnte, wenn man sich
für einen Prinzen hält. Ist der Patient vielleicht besonders ehrgeizig? Leidet er unter irgendeiner Form von Größenwahn? Erwartet
seine Familie womöglich große Dinge von ihm? Eine Frau, die unter der Wahnvorstellung
Glas, besteht aus
leidet, hat nicht unbedingt das Gefühl, aus Glas zu sein, sondern fühlt sich vielleicht zart und verletzlich, so, als könnte
sie jeden Moment entzweibrechen. Möglicherweise rechnet sie auch ständig damit, dass ihr etwas Schlimmes zustoßen könnte,
oder sie macht gerade einen Drogenentzug und hat das Gefühl, nicht durchzuhalten. In der Homöopathie sind die Gemütssymptome
so entscheidend, dass selbst ein Patient mit Schmerzen im Knie zunächst auf seine seelische und geistige Verfassung hin untersucht
werden muss, ehe man ihm etwas verschreiben kann. Nach dem Tod meines Großvaters litt ich plötzlich unter fürchterlichen Migräneanfällen
und ernährte mich einen Monat lang praktischnur von Ignatia, dem klassischen Mittel gegen Trauer und Enttäuschung. Die Trauer um meinen Großvater ließ zwar nicht nach,
aber die Kopfschmerzen verschwanden.
Ben gibt aus jedem der drei Fläschchen zwei Tropfen in das Glas.
«Und, was verordnest du mir?», frage ich.
«Notfalltropfen, Heckenrose und Holzapfel», antwortet er.
Das Fläschchen mit den Notfalltropfen in meiner Tasche fällt mir wieder ein. Daran hatte ich überhaupt nicht mehr gedacht.
«Und warum?»
«Weil … tja, also … Notfalltropfen nehme ich grundsätzlich immer und überall. Heckenrose hilft bei Teilnahmslosigkeit und
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