PopCo
will? Vielleicht genieße ich einfach nur das Gefühl, etwas Besonderes
zu sein, hier draußen in der Einsamkeit des Dartmoors. Vielleicht ist es auch die frische Luft. Keine Ahnung. Auf jeden Fall
will ich nicht weg, und ich werde ganz sicher nicht nochmal mit Georges in einen Firmenwagen steigen, schon gar nicht in meiner
jetzigen Verfassung. Das mag zwar albern sein, aber so ist es. Vielleicht bereue ich ja wirklich, seine Nummer verbrannt zu
haben. Vielleicht auch nicht. Das kann ich gerade schlecht beurteilen.
«Und ist das eine richtig gute Idee?», fragt Georges.
«Schon möglich.»
Er tritt an den Nachttisch und nimmt eins der Bachblütenfläschchen in die Hand, die Ben dagelassen hat, betrachtet es,verzieht das Gesicht und stellt es wieder zurück. Bens Philosophiebuch liegt daneben, und mir fällt auf, dass er ein Stück
Papier als Lesezeichen hineingelegt hat, anstatt einen Knick in die Seite zu machen. Dann wird mir klar, dass er mit seinen
Bachblüten und seinem Buch gewissermaßen Raum besetzt hat, was ja eigentlich heißen muss, dass er wiederkommt. Er wird wiederkommen,
mit seinem ernsten Gesicht und seinen buschigen dunklen Brauen, und er wird sich um mich kümmern.
«Herrgott, nimm doch ein Antibiotikum», sagt Georges. «Ich schicke dir einen Arzt vorbei. Wenn es dir in ein paar Tagen nicht
bessergeht, nehmen wir dich aus dem Projekt. Alles klar?»
Er betrachtet mein Zimmer so, wie ich Bens imaginäres Zimmer in meinem Kopf betrachtet habe. Nehme ich ihm das krumm? Kann
ich ihm verübeln, dass er nicht ernst ist, sondern leichtfertig, kein seltsamer Kauz, sondern ein Machtmensch, dass er praktisch
denkt, anstatt geheimnisvoll zu sein? Was hat er bloß an sich? Ich begreife das wirklich nicht. Georges ist ein Mann, der
nicht wiederkommt, wenn er einmal geht, das sieht man ihm an den Augen an. Doch man sieht in diesen Augen auch, dass es eine
Ausnahme geben kann. Es gibt auf der Welt eine Frau, zu der Georges immer wieder zurückkehren würde, für die er bereit wäre,
alles zu tun. Vielleicht kann ich mir ja vorstellen, wie es wäre, diese Frau zu sein: Das wäre etwa so, als würde die erste
Riemann’sche Nullstelle gefunden, die nicht auf einer Geraden liegt. Wäre man diese Frau, dann wäre man das Ziel seiner jahrelangen
Suche. Man wäre das Ergebnis eines gewaltigen Wettrennens gegen eine Wahrscheinlichkeitsquote, die kleiner ist als die Chance,
im Lotto zu gewinnen und dazu gleich mehrmals vom Blitz getroffen zu werden. Womöglich liegt der Reiz gerade darin. Es muss
doch eine unglaubliche Erfahrung sein, diese Stellung im Leben eines anderen Menschen zu haben. Ich sehe Georgesbewusst ausdruckslos an, in der Hoffnung, dass er die Leerstelle mit Spannung und Wärme füllt.
«Alles klar?», fragt er noch einmal.
«Ja», sage ich.
«Gut.»
«Georges …?»
Er ist schon fast an der Tür. «Ja, Alice?»
«Ich habe die Telefonnummer verlegt, die du mir gegeben hast, und …»
«Das ist wohl auch besser so», sagt er. «Belassen wir es doch lieber bei Chef und Angestellter, ja?»
Oder Herr und Sklavin
, denke ich, als er fort ist. Womit wir wieder bei Erdös wären. Und ich die Chance vertan habe, selbst Herrin zu sein und
ihn zum Sklaven zu machen. Aber vielleicht ging es darum auch gar nicht. Mit Tränen in den Augen lege ich mich wieder richtig
hin und habe das Gefühl, dass mir die Seele mit Rasierklingen zerschnitten wird. Tränen sind gleich Demütigung, Rasierklingen
gleich Betrug (und ich bin die Betrügerin, auch wenn ich selbst nicht recht weiß, warum). Als Ben mittags vorbeischaut, stelle
ich mich schlafend.
***
Meine neue Schule besteht aus vier Gebäuden. Jedem ist ein Name und eine Farbe zugeordnet. Die Namen sind Städtenamen; weiß
der Himmel, wieso. Ich war noch in keiner dieser Städte und glaube auch nicht, dass sie irgendwo in der Nähe liegen. Gloucester
ist gelb, Windsor rot, York grün und Buckingham blau. Ich komme nach Windsor, und Alex kommt nach York, obwohl ich versuche,
das gar nicht zu bemerken. Auch unsere Klassen sind nach ganz bestimmten Codes benannt. Meine heißt 1WP, was bedeutet, dass
ich im ersten Jahr an der Schule bin, mein Klassenzimmer im Haus Windsor liegt undich eine Klassenlehrerin namens Mrs. Pearson habe (daher das P). Diese Art der Namensgebung fasziniert mich; ich denke viel darüber nach. Wenn Mrs. Pearson plötzlich ums Leben käme (ihr völlig verrostetes Auto macht einen
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