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PopCo

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Titel: PopCo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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wird das alles ein Weilchen dauern. Wir müssen
     zum Beginn des Zweiten Weltkriegs zurück, vielleicht sogar noch etwas weiter.»
    «Zum Krieg?», frage ich.
    Sie nickt und nimmt einen Schluck von ihrem Drink. «Vielleicht ist dir ja aufgefallen, dass ich ein bisschen traurig geworden
     bin, als wir neulich über Bletchley Park sprachen. Es hat mich gewundert, dass du gar nicht wissen wolltest, ob dein Großvater
     im Krieg vielleicht dort war   …»
    «Dann war er also dort?», frage ich ganz aufgeregt.
    «Nein. Er nicht. Aber ich.»
    «
Du

    «Ich war eine der wenigen Frauen unter den Kryptoanalytikern dort. Ich habe zusammen mit Turing an der Entschlüsselung des
     Marine-Enigmas gearbeitet. Es war eine harte, aber sehr aufregende Arbeit. Dein Großvater und ich waren schon ein Paar, als
     der Krieg ausbrach. Wir wollten heiraten. Aber ein Krieg durchkreuzt so manchen Plan, und du kannst dir vielleicht denken,
     dass es in diesen Jahren nicht allzu viele Hochzeiten gab. Wir hatten beide in Cambridge studiert. Ich gehörte zu den ersten
     Frauen, die dort einen richtigen Abschluss machen durften, und ich studierte Mathematik, wie dein Großvater. In den dreißiger
     Jahren, als ich mit demStudium anfing, lehrte Alan Turing in Cambridge. Ich weiß noch, dass er sich anfangs leidenschaftlich für die Antikriegsbewegung
     engagierte, bis 1934 nach und nach alles aus den Fugen geriet. Hitler ließ sich eine Ungeheuerlichkeit nach der nächsten zuschulden
     kommen, er ließ Menschen auf den Straßen von Wien auspeitschen und ermorden, man hörte ständig neue Gerüchte, und niemand
     wusste so recht, was man glauben sollte. Keiner wollte Krieg, doch plötzlich schien er unabwendbar.
    In den zwei, drei Jahren vor der endgültigen Kriegserklärung machte ich meinen Abschluss und begann mit meiner Doktorarbeit,
     während dein Großvater in gewaltige Schwierigkeiten geriet. Er war schon damals ein echter Sturkopf, lehnte sich gegen alle
     Autoritäten auf. Er war gegen Krieg in jeder Form, und eines Nachts, kurz vor der Abschlussprüfung, schmierte er mit Kreide
     pazifistische Botschaften an die Mauern verschiedener Universitätsgebäude. Nach einigem Hin und Her war er gezwungen, sich
     dazu zu bekennen, und obwohl es nur Kreide war, die sich problemlos abwaschen ließ, verweigerte die Universität ihm daraufhin
     den Abschluss. Es hieß, er würde ihn nur bekommen, wenn er sich offiziell entschuldigte, was er natürlich kategorisch ablehnte.
     Er erklärte, das sei kein bloßer Dummer-Jungen-Streich gewesen, sondern eine politische Äußerung, und dann verließ er die
     Universität und schwor, nie wieder zurückzukehren. Er blieb in Cambridge, pflegte auch weiterhin Kontakt mit unserer Gruppe
     von Studienfreunden, aber er hat sich nie für das entschuldigt, was er getan hat. Es war eine seltsame Zeit. Turing war nach
     Princeton gegangen, um dort einen Mathematiker namens Gödel kennenzulernen, stieß aber stattdessen auf einen Kommilitonen
     aus Cambridge, G.   H.   Hardy.»
    «Den mit der Postkarte?», frage ich.
    «Herrje, hast du ein Gedächtnis! Ja, genau auf den.»
    «Was stand denn auf der Postkarte?»
    Meine Großmutter lacht. «Das führt uns ein wenig weg vom Thema, aber es dürfte immerhin erklären, was dein Großvater vorhin
     gemeint hat. Hardy war ein recht exzentrischer Mathematiker und deinem Großvater in vielem ähnlich. Er war besessen von Cricket
     und von der Suche nach einem Beweis für die Riemann’sche Vermutung. Und von Gott. Mit dem führte er einen ganz seltsamen Privatkrieg;
     er versuchte ständig, ihn auszutricksen. So kam Hardy beispielsweise immer mit einem Stoß Arbeit zum Cricket-Match und tat,
     als würde er sich wünschen, dass es anfängt zu regnen, damit er zum Arbeiten kommt. In Wahrheit war das aber eine Art Doppelbluff
     gegen Gott. Hardy glaubte, Gott würde merken, dass er sich Regen wünschte, und stattdessen die Sonne scheinen lassen – was
     Hardy ja eigentlich die ganze Zeit wollte. Von der Postkarte wusste damals alle Welt. Hardy hatte sie an einen Freund geschickt,
     kurz bevor er an Bord ging, um zu einer sehr stürmischen Überfahrt aufzubrechen. Auf der Postkarte stand, er habe den Beweis
     für die Riemann’sche Vermutung gefunden. Schon damals war die Riemann’sche Vermutung eins der bekanntesten ungelösten Rätsel
     der Mathematikgeschichte. Hardy war überzeugt, dass Gott ihn nicht ertrinken lassen würde, wenn er diese Postkarte verschickte.
    

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