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Kriegsdienst zu melden, wurde aber jedes Mal als psychisch untauglich ausgemustert. Einmal führte
er mich an meinem freien Tag zum Nachmittagstee aus. Ich hatte kurz zuvor von Leuten gehört, die von der französischen Résistance
nach England geschleust und dann mit dem Zug zu einer Geheimorganisation mit Sitz in London gebracht werden sollten. Die Mitglieder
dieser Organisation wurden angeblich in aller Welt mit Fallschirmen über Feindesland abgeworfen und hatten die schlichte Aufgabe,
dort alles Mögliche in die Luft zu jagen, ganz allgemein Chaos zu verbreiten, Sabotageakte zu verüben und was immer sonst
dazu beitragen konnte, die Deutschen aufzuhalten. Einige sollten auch entsandt werden, um den Maquis zu unterstützen, die
französische Widerstandsbewegung, die sich gerade zusammenschloss, um die Besatzungsmacht zu stürzen. Frankreich war damals
nämlich schon von den Deutschen besetzt …»
«Ich weiß», sage ich. «Ich habe ganz viele Bücher über den Krieg gelesen.»
«Na, umso besser. Dein Großvater fuhr also nach London, kontaktierte die entsprechenden Stellen und wurde zu einem Gespräch
in eine Wohnung unweit der Baker Street geladen. Die Organisation – sie nannte sich SOE,
Special Operations Executive
– war während des Krieges der reinste Magnet für sämtliche Rebellen. Die Stärkeren wurden ausgebildet, um sich in feindliches
Gebiet einschleusen zu lassen, in Frankreich und anderswo, alle Übrigen blieben im Land und arbeiteten sich in die örtlichen
Sitten und Gebräuche ein, in Dialekte und vor allem Verkleidungen. Man musste über französische Zahnmedizin recherchieren,
über deutsche Nähmethoden, die bestmöglichen Verstecke für Zyankalikapseln und so weiter …»
«Wie bitte?», frage ich. «Zahnmedizin? Wozu das denn?»
«Nun, wenn man in Frankreich abgeworfen wurde, musste man sich entweder als Franzose oder als Deutscher ausgeben.Und die Deutschen achteten damals auf jede kleinste Ungereimtheit. Alle, die nach Frankreich kamen, mussten vorher ihre Zähne
neu machen lassen. Wenn man in Frankreich mit englischen Füllungen auftauchte, war man sofort geliefert. Und natürlich musste
man auch fließend Französisch sprechen, was dein Großvater damals konnte. Die Leute vom SOE fanden seinen kleinen Auftritt
in Cambridge übrigens durchaus beeindruckend, vor allem, weil er so konsequent geblieben war und nicht klein beigegeben hatte.
Sie brauchten willensstarke Leute, die beim Verhör nicht einknicken würden. Bei der psychologischen Beurteilung zeigte ihm
der Arzt ein Bild mit zwei Tintenklecksen und wollte wissen, was das für ihn darstelle. Da ist dein Großvater aus der Haut
gefahren. Er hatte keinen Sinn für solchen psychologischen Firlefanz und erklärte dem Arzt, er solle aufhören, seine Zeit
hier mit sinnlosen Bildchen zu verschwenden, und lieber losziehen und wie ein richtiger Mann gegen Hitler kämpfen. Er konnte
einfach nicht anders. Diese Ausbrüche waren schuld daran, dass er bei derartigen Tests bisher immer versagt und es weder in
die Armee noch zur Marine geschafft hatte. Aber das SOE brauchte Leute wie ihn. Er wurde genommen und kam in ein geheimes
Trainingslager nach Schottland, wo er dreizehn Wochen lang lernte, mit dem Fallschirm abzuspringen, Gegner mit bloßen Händen
zu töten, Schlösser zu knacken, Bomben zu bauen und Brücken in die Luft zu jagen. Er wurde sogar rund um die Uhr beobachtet,
um sicherzustellen, dass er nicht im Schlaf Englisch redete! Dein Großvater war ganz in seinem Element. Als die Ausbildung
vorbei war, wollte er unbedingt nach Frankreich, doch beim SOE waren die Wartezeiten lang. Den Großteil des Krieges hat er
also einfach mit Warten zugebracht.»
Meine Großmutter wirft einen Blick auf die Uhr. Es ist schon fast halb neun.
«Ohne jetzt zu sehr ins Detail zu gehen, kann ich dir sagen,dass dein Großvater eine höchst eigenartige Zeit beim SOE verbracht hat. Wenn du etwas älter bist, kannst du ihn einmal danach
fragen. Das war vielleicht ein bisschen sehr ausführlich, aber ich wollte, dass du dir den Hintergrund so gut wie möglich
vorstellen kannst. Dein Großvater ist ein tapferer Mann, unwahrscheinlich stolz und sturköpfig, und er hat es Bletchley Park
nie ganz verziehen, dass er dort abgewiesen wurde. Natürlich hat er letztlich einen sehr viel spannenderen Krieg durchlebt
als wir, aber er wusste doch – wie wir alle –, dass er, abgesehen von Turing und
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