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Denn wenn er ertrank, würde er über Nacht berühmt werden und als der Mann in die Geschichte eingehen, der die Riemann’sche
Vermutung bewiesen hatte und daraufhin umgekommen war. Irgendwie ahnte Hardy, dass Gott nicht daran gelegen sein könnte, ihn
auf diese Weise unsterblich zu machen. Die Postkarte war also gewissermaßen seine Versicherungspolice. Besonders lustig war
es, als Hardy und Paul Erdös sich kennenlernten. Erdös war ebenfalls ein völlig exzentrischer Mathematiker. Er bezeichnete
Gott immer nur als den HF – den Höchsten Faschisten. Du kannst dir sicher vorstellen, wie gut die zwei sich verstandenhaben! Damit dürfte die Sache mit Hardys Postkarte wohl erklärt sein.»
«Verstehe», sage ich, obwohl ich keineswegs verstehe, wie das alles mit dem Streit von vorhin zusammenhängt.
Meine Großmutter schenkt sich einen weiteren, kleineren Drink ein und setzt den Wasserkessel auf, vielleicht, um mir noch
einen Tee zu machen. Draußen hat es angefangen zu regnen, es klingt wie das Getrappel kleiner Hufe an den Fensterscheiben,
und ich hoffe, dass es meinem Großvater gut geht. Meine Großmutter bringt mir tatsächlich noch einen weiteren süßen Tee, schaltet
dann den Gasofen ein und setzt sich wieder auf das Sofa.
«Wo waren wir? Ach ja. Turing arbeitete selbst schon seit einiger Zeit an der Riemann’schen Vermutung, und die Begegnung mit
Hardy brachte ihn auf den Gedanken, ob er nicht lieber versuchen sollte, sie zu widerlegen statt zu beweisen. Er kehrte in
sehr seltsamer Verfassung nach Cambridge zurück, voller Ideen, die noch viel verrückter waren als sonst; Ideen von echten
und imaginären Maschinen, die er konstruieren wollte. Allen voran wollte er eine Maschine für die Arbeit an der Riemann’schen
Vermutung schaffen, und ich war eine Zeitlang als seine Assistentin tätig. Ich hatte den Kopf damals voller romantischer Gedanken
über meine große Heldin, Ada Lovelace. Sie war die Tochter von Lord Byron und ebenfalls Mathematikerin. Außerdem war ich wohl
auch ein bisschen verliebt in Turing, was natürlich völlig aussichtslos war. In Cambridge wusste ja jeder, dass er schwul
war.»
«Schwul?», wiederhole ich schockiert. Das sagen wir manchmal in der Schule, wenn jemand etwas richtig Blödes gemacht hat.
Ich weiß zwar, dass es eigentlich für Männer steht, die andere Männer lieben, aber die Vorstellung verwirrt mich dann doch
zu sehr.
«Ja. Turing war schwul. Er wurde deswegen strafrechtlichverfolgt, und letztlich hat er sich aus diesem Grund auch das Leben genommen.» Meine Großmutter sieht mich eindringlich an.
«Du darfst niemals auf diese Weise über Menschen urteilen, Alice. Niemals, hörst du? Du weißt nie, was du damit anrichtest.»
«Das werde ich niemals tun», sage ich ganz ernsthaft.
«Gut. Nachdem der Krieg also offiziell erklärt war, legte man uns am Mathematischen Institut nahe, uns freiwillig zum Dienst
an einem Ort namens Bletchley Park zu melden. Man munkelte, dass Intellektuelle dort den Krieg mit Rätsellösen verbringen
könnten. Das war natürlich genau das Richtige für deinen Großvater. Er hatte zwar selbst keine Empfehlung bekommen, weil er
an der Universität ja geächtet war, doch er kam trotzdem mit. Leider gehörte er dann aber zu den wenigen, die nicht genommen
wurden. Sie erklärten ihm, man könne ihm keine Staatsgeheimnisse anvertrauen, er sei nicht diszipliniert genug. Ich wurde
genommen, und das war ein großer Schock für uns beide. Wir nahmen Abschied und versprachen einander, uns oft zu schreiben.
Jahrelang, auch als der Krieg längst vorbei war und wir geheiratet hatten, war es mir gesetzlich untersagt, deinem Großvater
zu erzählen, was in Bletchley Park geschehen war. Er hat es immer mit bewundernswerter Fassung getragen, aber es hat ihn doch
zutiefst verletzt, dass er abgewiesen worden war. Ich glaube allerdings nicht, dass er jemals neidisch auf mich war, weil
ich mit einigen unserer Freunde dort sein durfte. Er hat es mir gegönnt, und das hat meine Liebe zu ihm nur noch vergrößert.
Nachdem er in Bletchley Park abgewiesen worden war, trieb er sich ein gutes Jahr lang ohne eine sinnvolle Beschäftigung herum.
Inzwischen war er längst nicht mehr so pazifistisch wie früher. Täglich hagelte es neue Berichte von Hitlers Gräueltaten,
und dazu noch die ganze Kriegspropaganda … Man konnte einfach nur noch gegen ihn sein. Dein Großvater hatmehrfach versucht, sich zum
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