Poppenspael
Träume
auslösen. Sie wachsen aus unserem Bewusstseinsstrom wie
Pflanzensamen, die unter der Erde keimen, wenn sie mit Wasser,
Dünger und Wärme in Berührung kommen. In
ähnlicher Weise reifen auch die Samen in unserem Geist, wenn
sie mit bestimmten Eindrücken
zusammenkommen.«
Einatmen.
Ausatmen.
Vor Swensens Auge
erscheint die Schlüsselszene aus dem Puppenspiel. Er sieht das
kleine Schaf vor sich. Seba, das Schaf im Wolfspelz, steht dem Wolf
im Schafspelz gegenüber.
»Hey, Schaf!
Hast du denn überhaupt keine Angst vor mir?«, fragt
Seba.
»Nein, ich bin
das mutigste Schaf der Welt!«, antwortet der
Wolf.
Seba, Seba,
Seba?
Da war irgendetwas mit
diesem Seba!
Seba kommt von
Sebastian, antwortet eine imaginäre Stimme.
Wer hat das gesagt?
Wer hat das noch gesagt?
Einatmen.
Ausatmen.
Susan
Biehl!
Genau, das war Susan
Biehl, und zwar an dem Sonntagabend vor der Aufführung, als
sie mit Anna und mir hinter die Kulissen gegangen ist und uns das
kleine Puppenschaf gezeigt hat.
12
Auf dem Weg zur
Inspektion quält Swensen der Gedanke, dass er etwas nicht
richtig begriffen hat. Alle Bemühungen, dahinterzukommen,
verlaufen im Nichts. Es fühlt sich so an, als würde ihm
ein bekanntes Wort auf der Zunge liegen. Nur in einem ist sich der
Hauptkommissar sicher, es hat etwas mit dem ungewöhnlichen
Traum zu tun, der ihn in der Nacht aus dem Schlaf gerissen hat.
Immer wieder geistert ein Name in seinem Kopf herum,
Seba.
Grübelnd steigt
der Hauptkommissar die Treppe in den ersten Stock hinauf, geht
über den Flur und biegt dann in die Küchenzeile. Neben
sich stehend, brüht er einen Grünen Tee auf.
Seba kommt von
Sebastian, geistert es wiederkehrend in seinem Kopf herum, als er
wenig später mit seiner Tasse in den Konferenzraum zur
Frühbesprechung schlendert. Während er hinter seinem
dampfenden Tee sitzt, trudeln die Kollegen einer nach dem anderen
ein. Manchmal kommt es Swensen vor, als wären die
alltäglichen Abläufe eine Inszenierung auf einer
Theaterbühne.
Wie eine
Puppenbühne, verfeinert er seinen Vergleich. Dabei empfindet
er die graue Stadt plötzlich als einen Mikrokosmos, als eine
Bühne auf der Bühne, durch die alle Kollegen an
Fäden bewegt werden. Polizeikasperlefiguren, die
Mordfälle aufklären wollen und im Geflecht der Husumer
Winzigkeiten stecken bleiben.
Natürlich haben
wir Kripobeamten es immer wieder mit den kleinen Teilchen der
Wirklichkeit zu tun, überlegt er. Unsere Fakten lassen sich
nicht auf einen einzelnen, unabhängigen Nenner bringen, alles
hängt in jedem Moment mit allem zusammen. Es ist, als
würde die alltägliche Arbeit automatisch das
buddhistische Weltbild bestätigen. Wirklichkeit ist nichts
Eigenständiges, Festes, sagte Meister Rinpoche immer, sie
besteht aus einem System von abhängigen Teilen.
Auch der große
buddhistische Denker Nâgârjuna hat von dieser Tatsache
gesprochen, fällt dem Hauptkommissar ein und er erinnert sich
an ein Buch über den Mahāyāna-Buddhismus, in dem
stand: Der Geher und die begangene Strecke sind ein abhängiges
System, Seher und Sehen, Feuer und Brennstoff und natürlich
auch Tat und Täter. Es gibt kein System, das aus weniger als
zwei Teilen besteht.
An der Pinnwand
stechen die Namensschilder der Ermordeten Swensen direkt ins Auge,
Hanna Lechner, Petra Ørsted, Ronja Ahrendt. Darunter hat
Colditz die Namen der Verdächtigen geheftet. Unter Hanna
Lechner hängt der Name Florian Werner. Der Sport- und
Englischlehrer, der Angst hat, dass seine sexuelle Verfehlung durch
die Rektorin öffentlich gemacht werden könnte, muss nach
wie vor als Mörder in Betracht gezogen werden. Unter Florian
Werner ist der Name Wiktor Šemik angebracht. Colditz war
seinerzeit der Meinung, dass der ominöse Brief, den das
Mordopfer Lechner an diesen Mann geschrieben hat, für einen
Verdacht ausreicht. Der Puppenspieler behauptete aber, diesen Brief
nie erhalten zu haben. Wir haben ihm bis jetzt nicht das Gegenteil
beweisen können.
Auf der Fläche
für Ronja Ahrendt wurden die Namen Peter Pohlenz, Marcus
Bender und Dr. Michael Keck angepinnt. Das Trio der vermeintlichen
Liebhaber, die wahrscheinlich mehr oder weniger voneinander
wussten, bildet ein undurchsichtiges Gestrüpp von
amourösen Verstrickungen.
Unter dem Mordopfer
Petra Ørsted haftet ihr Mann Sören Ørsted, der
bei den meisten Kollegen heimlich als der Hauptverdächtige
gehandelt wird. Der Bruder Harald Timm ist nach seinem Alibi wieder
abgehängt worden. Ebenso
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